Wenn man Glück hat, erwischt man einen wie Jens Kelm. Seine Sozialisation ließ in seinem Leben gar keinen anderen Verein als Borussia Neunkirchen zu, der Großvater hatte ganze Arbeit geleistet. Dass ein Sechstligist eine Stadionführung ermöglichen kann, liegt an Menschen wie Jens Kelm. Menschen, die Bücher über ihren Verein schreiben, im heimischen Arbeitszimmer das Clubarchiv aufarbeiten und am Samstag Reparaturen am Stadion vornehmen, bevor die Frau zur Arbeit im heimischen Garten bittet. Im 35 Minuten entfernten Kaiserslautern ist man weniger flexibel, dort bleiben wir auf dem Betzenberg vor verschlossenen Toren stehen. In Neunkirchen erleben wir eine Stadionführung, die aus der Vielzahl der von uns besuchten zu den besten gehört.
Ein ausgeprägter Sinn für Nostalgie und Romantik wird natürlich vorausgesetzt, mancher Nachwuchsstar wird im Ellenfeldstadion ein bargeldloses Bezahlsystem ebenso vermissen wie die „Rund-um-Betreuung durch den Full-Service-Betreuer Arena One GmbH“, mit der die Bayern in der Allianz-Arena werben. Dabei hatte das Neunkirchener Stadion bei seiner Entstehung einen Stellenwert, der mit dem heutigen der Allianz Arena gleichzusetzen ist.
Olympische Spiele im Ellenfeldstadion
„Die glorreichen Zeiten des Vereins waren eine logische Folge“, sagt Jens Kelm und spricht von den Jahren bis 1963, in denen die Borussia ein halbes Jahrhundert in der höchstmöglichen Liga spielte. Die Stadt, in der Erich Honecker geboren wurde, profitierte von der Schwerindustrie und mit ihr der Fußball. Der Platz der Neunkirchner Borussia sollte also nicht nur einer von vielen, sondern ein Aushängeschild sein, „eine Werbefläche für die bürgerliche Sportbewegung“, wie Das große Buch der deutschen Fußballstadien schreibt. Entsprechend prunkvoll war die Einweihung des Borussia-Sportplatzes im Juli 1912: Die Borussia organisierte passend zu den Olympischen Spielen in Stockholm, die zeitgleich stattfanden, „Nationale Olympische Wettkämpfe“ mit 22 Vereinen.
In den Zwanzigerjahren begann mit der Verpflichtung des Wiener Torjägers Adolf Fischera die erste große Zeit von Borussia Neunkirchen, die im Gewinn des Süddeutschen Pokals 1921 und dem Bau einer Holztribüne nach englischem Vorbild gipfelte. Das Neunkirchener Publikum sprang auf den Erfolgszug auf, in einem Spiel um die Süddeutsche Meisterschaft wurde im März 1924 mit 12 000 Besuchern ein neuer Zuschauerrekord für das Saarland aufgestellt. (Das Saarland wurde erst 1920 als „Saargebiet“ gebildet und stand unter der Verwaltung des Völkerbundes.) Die Freude an der Tribüne hielt aber nicht lang. Im Winter 1928 brannte sie ab und wurde bis zum Frühjahr 1930 durch einen Massivbau ersetzt, dessen Überreste heute noch den Grundstock der Hauptribüne bilden.
In Neunkirchen hat das Stadion noch einmal eine besondere Bedeutung, denn diese Stadt hat es geschafft, in den vergangenen Jahren so gut wie alle historischen Gebäude in der Stadt abzureißen; damit reißt man der Stadt ihre Wurzeln heraus.
Borussia-Fan Nicky Kassner 2011 im »11 Freunde«-Interview
In Saarbrücken setzte man nach dem Krieg mit dem Ludwigspark auf einen Neubau (Eröffnung: 1953), das (mittlerweile vereinseigene) Ellenfeldstadion wurde dagegen erweitert und unter anderem um eine Turnhalle ergänzt. Den größten, millionenschweren Anstrich erhielt das Stadion im Juli 1964, als es auf Bundesliganiveau angehoben wurde. Bis heute ist aus dieser Zeit die „Spieser Kurve“ identitätsbestimmend für das Ellenfeldstadion, mit 15 Metern Höhe imposant und in ihrer Bauweise so zweckmäßig wie die Hochöfen. Das Stadion wuchs auf ein Fassungsvermögen von 30 000, über 21 000 Besucher verfolgten im Schnitt die Spiele der Borussia in ihrer erfolgreichsten Bundesliga-Saison 1964/1965, die mit dem 10. Platz abgeschlossen wurde. Nach einem Ab- und einem Wiederaufstieg verabschiedete sich Borussia Neunkirchen 1968 aus der Bundesliga und kehrte nicht mehr zurück.
Der Niedergang der Schwerindustrie
„Die glorreichen Zeiten des Vereins waren eine logische Folge“, sagte Jens Kelm. Er führte den Satz fort: „So wie auch der Untergang des Vereins eine logische Folge war.“ 1968 schloss in der Stadt, die in ihrem Wappen die Symbole für Kirche, Bergbau und Industrie führt, die letzte Kohlengrube, 1982 machte auch das Eisenwerk dicht. Ein Jahr zuvor spielte die Borussia zum letzten Mal in der 2. Bundesliga Süd. Im Februar 1990 kaufte die Stadt das Stadion zurück und verhinderte so die Insolvenz des Vereins. Im April 2015 musste Borussia Neunkirchen einen Antrag auf Zahlungsunfähigkeit stellen. Zum zweiten Mal nach 2002.
Borussia Neunkirchen spielt mittlerweile in der Saarlandliga, der Zuschauerschnitt liegt im mittleren dreistelligen Bereich. An die besseren Zeiten erinnert heute noch die Statue vor dem Stadion, die seit 1955 Verbundenheit von Fußball, Schlossbrauerei und Eisenwerken symbolisiert. Wie viele Phasen diese Figur durchgemacht hat! Sie könnte viele Geschichten erzählen. Man kann aber auch Jens Kelm fragen.
Anschrift: Ellenfeldstadion, Mantes-La-Ville-Platz 12, 66538 Neunkirchen
Internet: https://borussia-neunkirchen.de/stadion/
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