Tonstudio der Nationalelf, Walldorf

Aus der Gruppe junger Männer sticht er heraus. Die anderen wippen fröhlich nach links und rechts, zwar nicht im Takt, aber immerhin wippen sie und geben sich locker, entspannt und bemüht talentiert. Nur die Miene des Rothaarigen unter ihnen ist finster. Sehr finster. Sie singen einen WM-Song ein und da geht es auch nur mit einhundert Prozent. Mit Konzentration bei der Sache sein, das hatte er früh lernen müssen. Wer sich hier gehen lässt, der wird auch auf dem Spielfeld nachlässig sein. Und als hätte es Matthias Sammer geahnt: Mit „Far away in America“ gibt es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nichts zu holen. Illgner erleidet beim Freistoß von Stoitschkow eine Schockstarre, Häßler verirrt sich ins Kopfballduell mit Yordan Letchkov. Deutschland kann den Titel nicht verteidigen.

Mit Michael Schanze über die Liebe singen

Die Geschichte beginnt da, wo sie aufhört. Die Aufnahme mit den „Village People“ war die (vorerst) letzte in der Gesangshistorie der Nationalmannschaft. Udo Jürgens hatte sie 1990 auf den Brenner geschickt, vier Jahre zuvor war es Peter Alexander, der mit einem herzzerreißend authentischen Trompetensolo von Toni Schumacher auf Mexiko einstimmte. Wie dieses Stück wurde auch der Vorgänger „Olé España“ von Ralph Siegel produziert und bescherte 1,2 oder 3-Legende Michael Schanze 1982 den einzigen Top-Ten-Hit seiner Gesangskarriere. Dorthin schaffte es auch 1978 „Buenos Dias Argentinia“, ehe die Schmach von Cordoba dafür sorgte, dass „der Verkauf meiner Platte auf null zusammen sackte“. So berichtet es Udo Jürgens in Gunnar Leues Football’s coming home – Die großen Momente der Fußballpopgeschichte.

Dieses Song-Quintett hat (trotz allen Erfolges) nicht das Recht des Erstgeborenen. Es fällt der Platte „Fußball ist unser Leben“ zu, produziert von Jack White alias Horst Nußbaum, der bei Victoria Köln, beim FK Pirmasens und dem PSV Eindhoven selbst Profi war. Im Oktober 1973 traf er sich mit der Nationalmannschaft im Tonstudio von Hans Pfalzgraf in Mörfelden-Walldorf, einer 32 000-Einwohner-Doppelstadt vor den Toren Frankfurts.

Das Beste an dieser unsäglichen Produktion ist die Coverrückseite. Man sieht dort alle Spieler des WM Kaders als Portrait. »Fiese Scheitel« im wahrsten Sinne des Wortes.

fc45.de über die Platte »Fußball ist unser Leben«

Hintergrund war die Hoffnung der DFB-Oberen auf ein paar Zusatzeinnahmen für die teure WM-Organisation. Bei den Engländern hatte das 1970 mit „Back at home“ bestens geklappt, der Song verkaufte sich prima und hielt sich drei Wochen auf Platz eins der britischen Charts. Das Auftreten als bekanntester deutscher Männergesangsverein sollte aber auch das Gefühl der Zusammengehörigkeit unterstreichen, die Botschaft an die Leute war klar: „Die Jungs sind eine Mannschaft, die gehören zusammen, die singen sogar zusammen“, wie Musikmanager Hans R. Beierlein in Gunnar Leues Buch erklärt.

Jack White setzte sein Vorhaben, „unbedingt etwas Volkstümliches zu schreiben, denn der Fußball ist nun mal volkstümlich“, gnadenlos in die Tat um. „Fußball ist unser Leben“ wurde „eine Stimmungskanone, die jedes Schützenfestzelt zum Einsturz gebracht hätte“ (Gunnar Leue), auch Trevor Wilson, einer der Gründer der Seite fc45.de, findet das Lied „großartig“ und sieht es als „ersten und besten Versuch“ der Nationalelfsongs.

Neuer oder Kroos am Mikro – das wird’s nicht geben

Dabei war das Singen nicht jedermanns Sache. Die Bayern mit Beckenbauer und Breitner sollen inbrünstig mitgejodelt haben, Wolfgang Overath hielt sich dagegen bedeckt im Hintergrund. Günter Netzer kam erst gar nicht.
Die Begeisterung über eine Rückkehr in die Tonstudios hält sich auch bei der heutigen Generation in Grenzen, wie Oliver Bierhoff 2012 in der 11 Freunde verrät. Zwar läge das Thema „vor jedem großen Turnier“ bei ihm auf dem Tisch, für die Jungs sei das aber „kein Thema“.

Für ein gutes Omen stehen die Gemäuer in Mörfelden-Walldorf auch nicht mehr zur Verfügung. Zwar wird dort heute noch gesungen, „Kyomo Genkide“ oder „Ifu do no no uta“ sind allerdings bekannte Lieder der Soka Gakkai. In der Nordendstraße 38 hat sich mittlerweile die buddhistische Religionsgemeinschaft niedergelassen.

Anschrift: Nordendstraße 38, 64546 Mörfelden-Walldorf

Tonstudio der Nationalelf, Walldorf
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