Eigentlich sind wir selbst nicht besser. Der Journalist Erik Kiwitter und ich verbringen an diesem Tag zig Stunden miteinander. Immer wieder echauffieren wir uns über den Vergleich zwischen Ost- und Westfußball, dass ein Joachim Streich kein ostdeutscher Gerd Müller und Dixie Dörner kein „Beckenbauer des Ostens“ war. Dass das Weiterkommen der Bayern gegen Dresden in den Medien heute noch ein Thema sei, Magdeburgs Gala gegen Schalke – „vermutlich die beiden besten Spiele, die eine DDR-Mannschaft jemals im Europapokal absolvierte“, wie Kiwitter sagt –, dagegen nicht.
Und als wir am Ende unserer Verabredung im ehemaligen Glück-Auf-Stadion in Oelsnitz im Erzgebirge stehen, Kiwitter mit einer Zigarette in der Hand, sagt er zu mir: „Das hier war das ostdeutsche Ruhrgebiet. Überall Fördertürme, Qualm, raue Menschen.“ Also auch hier ein Vergleich zwischen Ost und West.
Nicht umsonst trägt das inzwischen marode Stadion in Oelsnitz den gleichen Namen wie die Kampfbahn auf Schalke: Glück Auf. Der Ballungsraum Chemnitz-Zwickau gehört zu den größten verdichteten Räumen in Deutschland. Von Oelsnitz braucht man keine halbe Stunde, weder nach Zwickau noch nach Aue und schon gar nicht ins „sächsische Manchester“ Chemnitz, das wiederum keine 30 Autominuten von Meerane entfernt liegt. Wie im Ruhrgebiet stapeln sich hier die Traditionsvereine, wer zu Beginn der Fünfzigerjahre als Kind in Oelsnitz aufwuchs, hatte die freie Wahl der Herzensmannschaft.
Empor Lauter gehörte zu den besten Mannschaften der DDR-Oberliga
Dafür, dass eine fünfte Mannschaft keine Lieblingsmannschaft werde konnte, sorgte die Politik. 1952 stieg Empor Lauter in die DDR-Oberliga auf, ein kleiner Ort im Erzgebirge, der nur drei Kilometer von Aue entfernt liegt. In ihrer Premierensaison 1952/53 platzierte sich Empor im gesicherten Mittelfeld der Tabelle und wiederholte das Kunststück ein Jahr später. In der Spielzeit 1954/55 war man zwischenzeitlich sogar in der Spitzengruppe zu finden.
Ganz anders stellte sich die Situation im rund 500 Kilometer entfernten Rostock dar, der Stadt, die „für die DDR das Tor zur Welt“ war, wie es in einer Dokumentation von Sport im Osten heißt. In Rostock entstanden Schiffswerften, ein neuer Hafen und ein neues Stadion, allerdings stand dem wirtschaftlichen Aufschwung eine fußballerische Flaute entgegen. „Rostock hatte ja zu dem Zeitpunkt damals gar nichts da oben“, erzählt der inzwischen verstorbene Empor-Spieler Karl Bochmann in der Doku, „das war der Hauptgrund, warum sich die da oben sagten, wir müssen an der Küste mal ein bisschen was veranstalten.“
„Die da oben“, das war die SED-Bezirksleitung Rostock, die der arbeitenden Bevölkerung Unterhaltung und dem neuen Ostseestadion in Rostock eine leistungsfähige Mannschaft präsentieren wollte.
Zwölf Spieler wurden von Empor Lauter nach Rostock transferiert
Die fanden die Politiker im Bezirk Karl-Max-Stadt. Im Trainingslager in Berlin wurde die Spieler Lauters nach ihrer Bereitschaft gefragt, umzusiedeln. „Ein Wechsel an die Ostsee wurde uns mit allen Mitteln und Versprechungen schmackhaft gemacht“, wird Kurt Zapf in der Hansa Rostock-Chronik zitiert. Nach dem 1:0-Heimsieg gegen Babelsberg wurden zwölf Akteure früh morgens um halb 5 in einen Omnibus gesetzt und samt ihrer Familien an die Ostsee verfrachtet. Der aus Plauen gekommenen Zapf war leicht für das Abenteuer zu begeistern, anderen fiel es schwerer. Sie beendeten ihre Oberliga-Laufbahn oder spielten zukünftig für Zwickau oder Aue.
Empor Lauter verschwand daraufhin aus der Tabelle der DDR-Oberliga, den Platz nahm Empor Rostock ein und belegte am Ende der Saison 1954/55 den neunten Tabellenplatz. Kurt Zapf wurde an der Ostsee Nationalspieler und blieb sein ganzes Leben in Rostock.
Keine Spiele auf dem Sportplatz an der Lumbachhöhe
Auf dem Sportplatz an der Lumbachhöhe stieg Empor Lauter zwar in die Oberliga auf, da er den Anforderungen aber nicht genügte, absolvierte Empor die Partien in der höchsten Spielklasse der DDR in Aue, Annaberg-Buchholz oder auf der Kampfbahn des Friedens (der vermutlich schönsten Antithese, die es im deutschen Fußball jemals gab) in Schwarzenberg. Ein geplanter Stadionneubau in Lauter war zu Beginn der Fünfzigerjahre am Baulandtausch gescheitert, am Ende wurde die Lumbachhöhe ausgebaut und 1956 eingeweiht. „Aus einem Stadion mit internationalem Anspruch, das am 10. September 1952 die Oberliga beherbergen sollte, ist ein Platz geworden, auf dem die Kreisklasse spielt“, schreibt Burkhard Schulz in seiner Aufarbeitung der Geschehnisse. Es war damals offensichtlich einfacher, eine ganze Mannschaft zu verfrachten, als einer Erstliga-Mannschaft eine angemessene Heimat zu geben.
Die Geschichte von Empor Lauter ist kein Einzelfall. Dresden wurde ebenfalls im November 1954 nach Berlin verlegt und dort dem Sportclub Dynamo angeschlossen. Der heutige 1. FC Frankfurt (Oder) wurde 1951 in Leipzig gegründet, zog zwei Jahre später nach Berlin um und 1971 nach Frankfurt (Oder) weiter. Und nur ein Proteststurm der Bevölkerung verhinderte, dass Wismut Aue nach Karl-Marx-Stadt delegiert wurde. Am Ende trug Wismut den Namen Karl-Marx-Stadt, spielte aber weiter im Auer Otto-Grotewohl-Stadion. In der Saison 1954/55 wurde Wismut Vizemeister und FDGB-Pokalsieger – nach einem 3:2 im Finale über Empor Rostock.
Anschrift: Empor Lauter, Sportplatz an der Lumbachhöhe, Heinrich-Heine-Straße 91, 08312 Lauter-Bernsbach
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