Wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er auch noch heute: In Altenkunstadt, im Norden Bayerns, möchten meine Frau und ich die Symbolfigur der Weltmeisterschaft 2006 besuchen, den Löwen „Goleo“. Die Firma Nici war der Kreißsaal für Goleo (offiziell „Goleo IV“), ein Unternehmen, das Merchandising-Produkte als Lizenznehmer und Plüschtiere aus eigener Entwicklung herstellt. Fast zwei Dekaden nach der WM im eigenen Land möchte ich an einem Restpostenstand im Werksverkauf einen Goleo kaufen und die Erinnerungen an das Sommermärchen zurückholen, das so bezaubernd und magisch war.
Nicht minder bezaubernd und magisch erzählt sich die Gründungsgeschichte der Firma Nici: Als den Oberfeldwebel Ottmar Pfaff nach der Geburt seiner Tochter Ende der Sechzigerjahre Geldsorgen plagen, verkauft er die selbstgenähten Plüschtiere seiner Frau Martina. Aus dem Nebenerwerb wird 1986 eine Firma, deren Name an Pfaffs Tochter Nicole angelehnt ist: Nici.
Goleo war nicht für die Insolvenz von NICI verantwortlich
Die Wende im oberfränkischen Märchen kommt mit der Umfirmierung der „NICI M+O Pfaff GmbH“ zur „NICI AG“ im Jahr 1999: „Wir haben festgestellt, dass ein Börsengang doch eine Nummer zu groß für uns war“, sagte Ottmar Pfaff Jahre später der WELT. Als die Zahlen sinken, beginnt Pfaff „mindestens von 2003 an“ (Süddeutsche) damit, dies gegenüber den Banken zu verschleiern. Ende Juli 2007 fällt das Urteil gegen Pfaff, die SZ schreibt: „Der Gründer und langjährige Vorstand des oberfränkischen Plüschtierherstellers NICI, Ottmar Pfaff, muss sechseinhalb Jahre ins Gefängnis. Das Landgericht Hof verurteilte den 58-Jährigen wegen Betrugs in zehn Fällen und Bilanzfälschung.“ Pfaff, der in der Verhandlung immer wieder beteuerte, aus Mitgefühl für seine Angestellten gehandelt zu haben, hatte sich selbst die Taschen vollgemacht.
Viele Fans hätten den verzottelten Löwen am liebsten gleich nach dessen Präsentation eingeschläfert.
»Der Spiegel«
Dass Goleo für das finanzielle Desaster der NICI AG schuldig gemacht wurde, ist vielsagend. Die Reputation des Löwen litt bereits bei seiner Vorstellung. Thomas Gottschalk begrüßte Goleo, der 250 000 Euro gekostet haben soll, bei Wetten, dass? mit den Worten: „Einer deiner Vorfahren hat mal was mit einem Lama gehabt“, Goleo antwortete: „Das ist ein dunkler Fleck in meiner Familiengeschichte“. „Vernichtende Kritik an Goleo“, titelte der Deutschlandfunk kurz vor dem Sommermärchen, der Werbefachmann Sebastian Turner wurde herangezogen und bezeichnete Goleo, der von der Jim Henson Company erschaffen wurde, als „ein Zeichen der geistigen Heimatlosigkeit“. An anderer Stelle wurde Goleo für seine fehlende Hose und seinen „dümmlichen Blick“ diskreditiert, die Zeitschrift „Öko-Test“ behauptete, Goleo enthalte gesundheitsgefährdende Schadstoffe (was nicht der Wahrheit entsprach). Da passte das Bild des wirtschaftskriminellen Löwen ins schiefe Bild.
Es reicht nicht, keine Ideen zu haben, man muss auch unfähig sein, diese umzusetzen.
Erik Spiekermann, Star-Designer, in einem Interview mit dem »Stern«
Denn Mitte Mai 2006 überschlugen sich die Meldungen: „Der unerwartet geringe Absatz des Plüschtiers hat die Spielzeugfirma NICI in eine schwere Krise gestürzt“, berichtete der Tagesspiegel, „Goleo stellte NICI ins aus“ die Wirtschaftswoche, „‘Goleo‘ ruiniert das Geschäft“ die SZ. Am Ende sah sich die FIFA sogar veranlasst, eine Klarstellung auf ihrer Webseite zu veröffentlichen, die Presselandschaft ruderte kollektiv zurück. Goleo verkaufte sich zwar nur schleppend (insgesamt immerhin mehr als eine Million Mal, „Focus“), „doch es brachte allenfalls ein Fass zum Überlaufen, das bereits randvoll war“, wie das Buch Fußballheimat Franken erklärt. Es waren Pfaffs Bilanzfälschungen, die NICI in die Insolvenz führten. Am Ende kaufte ein amerikanischer Finanzinvestor die Firma, Insolvenzverwalter Dr. Michael Jaffé gelang die Restrukturierung des Unternehmens, das jetzt wieder eine GmbH ist und über 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.
Eine von ihnen frage ich nach Goleo. Wir stehen in dem kleinen Häuschen des Werksverkaufs, noch nie war ich in meinem Leben so umringt von Kuscheltieren. „Das ist lange her“, erklärt die Verkäuferin, „die Lizenz ist abgelaufen, Goleo dürfen wir gar nicht mehr verkaufen“. Und als wäre der Riss in meinem geschundenen Herz nicht schon groß genug, ergänzt sie: „Aber wir haben jetzt den Bayern-Bernie, das ist vielleicht eine Alternative!“
Mit Goleo 06 präsentiert die Fifa als offizielles Maskottchen erstmals eine vielschichtige, gewissermaßen lebende Charakterfigur.
Pressemitteilung der FIFA
Niedergeschlagen verlasse ich das Plüschtierparadies. Wir setzen uns ins Auto, ich öffne meine Ebay-App und finde mehrere hundert Möglichkeiten, um Goleo doch noch zu erwerben. Die Puschen, mit denen mich mein Kumpel Alex immer eifersüchtig macht, finde ich nicht. Das Federmäppchen spricht mich an, aber ich möchte in der Schule nicht als noch sonderbarer gelten, schließlich wird mein Smartphone durch eine klappbare Hülle geschützt. Als ich meiner Frau die Goleo-Bettwäsche zeige, verrät mir ihr Blick, dass ich mir dann gleich einen Tinder-Account zulegen kann.
Ich stecke den Schlüssel ins Zündschloss, das Autoradio springt an. In den Nachrichten erzählt man uns, dass die Suche in Berlin nach einem freilaufenden Löwen anhält. Wenige Tage später stellt sich heraus, dass der Löwe ein Wildschwein war. Und wenn es nicht gestorben ist, …
Fotoquelle: IMAGO / Sven Simon
Anschrift: NICI, Langheimer Str. 94, 96264 Altenkunstadt | NICI Werksverkauf, Zum Külmitz 15, 96264 Altenkunstadt
Internet: https://www.nici.de
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