Im Alter von zehn Jahren sollte meine Fußball-Leidenschaft über das Sammeln von Panini-Bildchen und das penible Studieren der Fachpresse hinausgehen, der erste Stadionbesuch stand an. Bei den Frauen in unserer Familie hielt sich die Begeisterung darüber in Grenzen. Meine Oma, die nach dem Krieg ein chronisch von Sorgen geprägtes Leben führte, war beunruhigt durch die Bilder, die man kurz nach der Wende rund um das Umfeld der Fußballstadien sah. Mein Großvater konnte zumindest meine Mutter damit beruhigen, dass die Krawalle „nur in der Ostzone“ seien.
Tatsächlich trauten sich in dieser Zeit immer weniger Leute in die Stadien. Im Schatten des Fußballs ging 1990 die Wiedervereinigung schneller voran als in vielen anderen Bereichen. Gewaltbereite Anhänger aus der BRD reisten in den Osten, weil man sich dort im Paradies wähnte: Gleichgesinnte Gegenpole, überforderte Polizisten und marode Stadien, die schon in ihrem Umfeld viel Munition wie herumliegende Steine boten.
Ich war ein Wende-Jugendlicher, ich wusste nicht, wohin mit mir. Beim Fußball gab es Zusammenhalt und Adrenalin. Das war eine verlockende Mischung damals.
»Dennis« in Alex Raacks Buch »Alles aus Liebe«
Die Szene rund um den Serienmeister Dynamo Berlin, der nun FC Berlin hieß, galt als besonders gewalttätig. Der von der Stasi protegierte Verein zog schon zu DDR-Zeiten den Hass der anderen Klubs auf sich, so dass sich die eigene Anhängerschaft stetig radikalisierte. Am 3. November 1990 traten rund 500 von ihnen die Reise nach Leipzig zum Spiel gegen den FC Sachsen an.
Ein kleiner Teil von ihnen, man spricht heute von 100, ist damals letztendlich unbehelligt ins Stadion gekommen. Die weitaus größere Gruppe mit einer Zahl von 400 Leuten trifft erst später am Bahnhof Leutzsch ein, der sich in der unmittelbaren Nähe des Stadions befindet.
Straßenschlachten in Leipzig
Der Stabschef der Leipziger Polizei berichtet davon, dass die Ordnungsmacht „tätlichen Angriffen“ und „Feuerwerkskörpern“ der Berliner ausgesetzt sei und sich in ihrer Unterzahl nur mit Reizgas zu helfen wisse. Die Anhängerschar bewaffnet sich daraufhin mit Steinen aus dem Gleisbett und sucht sich über die Pettenkoferstraße einen neuen Weg zum Stadion.
Die Sache eskaliert, die nur 25 Mann starke Polizei macht von der Schusswaffe Gebrauch und trifft auch den 18-jährigen Mike Polley, es gibt vier weitere Schwerverletzte. Mike Polley stirbt noch auf den Schienen des Leutzscher Bahnhofes. Der genaue Tathergang ist und bleibt ungeklärt. Augenzeugen berichten, dass die Schüsse nicht aus Notwehr erfolgten, sondern den fliehenden Berlinern hinterhergeschossen wurde.
Wie bei Lutz Eigendorf gibt es in der Pettenkoferstraße keine Gedenktafel, nicht einmal einen Blumenstrauß oder ein Kreuz erinnern an Mike Polley. Die BFC-Fans richten ihm zu Ehren jährlich ein Gedächtnisturnier aus.
Anschrift: Pettenkoferstraße, 04179 Leipzig
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