Bahnhof Singen, Singen

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Bahnhof Singen, Singen

Ende 2019 kamen zehntausende Fußballfans zur Beerdigung des sogenannten Wochenendtickets, mit dem sie Jahrzehnte zuvor so viele schöne Zeiten erleben durften. Für wenige D-Mark fuhr die Trauergemeinde in den Neunzigern mit den Regionalbahnen durch Deutschland, um das Wochenende im Stadion (und nicht mit der Freundin) zu verbringen. Das Wochenendticket schweißte das Land zusammen, so wie es eigentlich nur Dörfer zusammenschweißt, wenn es um Protestaktionen gegen Windräder geht. In schrankenloser Solidarität wurden wildfremde Menschen adoptiert und in die Kleingruppe aufgenommen, bevor sie der Schaffner beim Schwarzfahren erwischte. Gemeinsam verbrachte man Nächte am Knotenpunkt Eichenberg, weil der Anschlusszug mal wieder nicht erreicht werden konnte. Man wettete untereinander, ob der Zug auf dem Weg nach Treysa zuerst in Langgöns oder in Kirch-Göns hält und bewunderte die erfolgreichen Flirtversuche eines stark alkoholisierten Werder-Fans bei einer Dame, die auch seine Urgroßmutter hätte sein können.

Mit der Bahn verbindet jeder Fußballfan seine eigenen Erlebnisse und Geschichten. Für Herbert Schmidt war es keine Fahrt mit dem Zug, sondern die Ankunft eines Zuges. „Es war ein gewaltiger Auflauf von Menschen“, berichtete der inzwischen verstorbene Zeitzeuge vor einigen Jahren dem Südkurier. Schmidt spricht in diesem Artikel vom 5. Juli 1954 und der Ankunft der Weltmeistermannschaft in Singen, dem ersten geplanten Halt in der deutschen Heimat. Der blumenverzierte VT08-Sonderzug, das damals „nobelste Modell“ der Deutschen Bahn (Finale Grande 1954 – Die Rückkehr der Fußballweltmeister), begann seine Fahrt in Spiez und passierte in der Schweiz die Bahnhöfe Interlaken, Brienz, Sarnen, Luzern, Zug, Affoltern, Zürich und Bülach.

Der erste Halt auf deutschem Boden fand nicht am Bahnhof Singen statt

Der erste deutsche Bahnhof, der durchquert wurde, war der Bahnhof Jestetten. Ein Halt war dort nicht geplant. Dass es dennoch dazu kam, war auf den örtlichen Sportverein und dessen Leiter Leo Straub zurückzuführen, der damit drohte, sich zur Not auf die Gleise zu setzen. Als Fritz Walter bei dem kurzen Zwischenstopp den Pokal hochhielt, „kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr“, wie der Südkurier damals schrieb. Durch seine besondere Lage im Jestetter Zipfel – der Bahnhof Jestetten ist nicht ans deutsche, sondern ans Streckennetz der Schweizerischen Bundesbahn angebunden –, fuhr der Weltmeisterzug dann noch einmal durch die Schweiz und den Bahnhof Schaffhausen, bevor er den zweiten deutschen Ort passierte: Gottmadingen. „Die Musikkapelle spielte zum Freudenmarsch auf. Eine riesige Menschentraube winkte euphorisch den Fußball-Weltmeistern zu“, schrieb der Südkurier über jenen Tag in der kleinen Gemeinde, die durch die Maschinenfabrik Fahr Bekanntheit erlangte.

Singen war die erste deutsche Stadt, in der Sepp Herberger und seine Mannen offiziell und planmäßig Halt machten. Singen befand sich seinerzeit im Wachstum, „Schweizer Unternehmen wurden neugierig auf die erste Station hinter der Grenze“, wie es in Finale Grande 1954 heißt. „Was in Gottmadingen eine kleine Einführung war, steigerte sich in Singen ins Kolossale“, berichteten damals die Schaffhauser Nachrichten. Kinder und Jugendliche kletterten auf das Dach des Bahnhofs, um einen Blick auf die Weltmeister zu werfen, die gegen 17:30 Uhr auf Gleis 2 ankamen. „Das Bahnhofsgelände sah nachher aus, als ob dort und nicht in Bern das Endspiel stattgefunden hätte“, führt Finale Grande 1954 fort.

Baumkuchen, Jungfrauen und Maggi

Die Singener Stadtmusiker entschieden sich dazu, die Nationalhymne zu spielen, kamen aber nicht dazu, da sie in dem Gedränge weder die Noten lesen noch ihre Arme heben konnten. Der Oberbürgermeister sprach zwar ins Mikrofon, wurde aber aufgrund des Jubels nicht verstanden. Die Konditorei Graf bekam unter großen Mühen einen Baumkuchen in den Zug. Eine Delegation der Maggi-Werke überreichte jedem Spieler die neuesten Maggi-Produkte, die Steißlinger Ehrenjungfrauen übergaben Rosen. Einige Helden von Bern stiegen am Singener Bahnhof sogar aus und wagten sich unter die rund 25 000 begeisternden Menschen, eine Zahl, die der damaligen Einwohnerzahl Singens entsprach. „Ob wir da lebend wieder rauskommen?“, wurde Torhüter Toni Turek damals im „Südkurier“ zitiert. Eine berechtigte Frage, schließlich fasste der Journalist Helmut Landefeld in seinem Buch „Helmut, erzähl‘ mir dat Tor“ die Ereignisse jenes Tages mit den Worten „Lebensmüde am Bahnsteig“ zusammen.

Über Radolfzell und Konstanz ging es über die Stationen Überlingen und Friedrichshafen bis nach Lindau, wo die Mannschaft übernachtete. Oberstaufen, Immenstadt, Kempten, Kaufbeuren, Buchloe, Kaufering, Türkenfeld und Fürstenfeldbruck waren die Stationen des nächsten Tages, bis man in München ankam. Dort sollen „fast eine Million Menschen“ den Weltmeister empfangen haben.

 „Die (west-)deutsche Bevölkerung, ob fußballinteressiert oder nicht, bereitete ‚ihrer‘ Siegermannschaft an den jeweiligen Bahnhöfen triumphale Empfänge“, schreibt Alfred Georg Frei in „Finale Grande 1954“. Es sei, so das Buch, ein „Fest der ‚kleinen Leute‘ gewesen, rund eine halbe Million Menschen sollen Kapitän Fritz Walter und seiner Mannschaft auf dem Weg nach München zugejubelt haben. Walter später in einer Dokumentation: „Von Spiez bis nach München, überall standen die Leute an den Bahnstrecken, ich krieg da Gänsehaut, das ist ein Tag, den man sein ganzes Leben nicht vergisst.“

Anschrift: Singen (Hohentwiel), Bahnhofstraße 2. 78224 Singen (Hohentwiel)

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