Der Briefträger sieht genervt aus, als er das beckenbauernschte Paket aller Zeiten übergibt. Schwer ist es, vier Bücher sind drin, die meisten unbrauchbar, wie sich noch herausstellen wird. Das teuerste kostet 1,09 Euro, für das Porto gebe ich mehr Geld aus als für das gesamte literarische Quartett. Überwiegend wird in den Büchern das vereint, was man kennt: Den legendären Spaziergang nach dem WM-Finale 1990. Die Zeit bei Cosmos New York. Die goldenen Jahre als Spieler beim FC Bayern. So ist „Schau’n mer mal“ eine illustre Foto-Sammlung aus dem Leben Beckenbauers. Hans Blickensdörfer widmet in „Der Kaiser“ immerhin vier Seiten der Jugend – bebildert aber zwei davon.
Darum soll es gehen, Geschichten über die Kindheit Beckenbauers, wie sein Leben aussah, als er noch in einem Haus in der Zugspitzstraße 6 in München-Giesing wohnte. Dem Objekt, das es in die „11 Freunde“-Hitliste geschafft hat und in dem Beckenbauer die ersten 15 Lebensjahre verbrachte.
Der Kaiser war gar keine Hausgeburt
Erst Torsten Körners „Der freie Mann“ und die Autobiographie „Einer wie ich“ setzen sich (mehr oder weniger) ausgiebig mit Beckenbauers Jugend auseinander. Und Körner klärt erst einmal auf: Beckenbauer wurde in der Haas-Klinik geboren, nicht in dem Gebäude, vor dem wir stehen. Noch dazu ist es sachlich falsch, von der Zugspitzstraße zu sprechen, denn als das Haus 1962 der Zugspitzstraße zugeordnet wurde, lebten die Beckenbauers längst in Schwabing. Korrekt wäre es, vom Bonifatius Platz 2 zu reden.
München-Giesing zählte zu den ärmsten Vierteln der Landeshauptstadt, 84% der Bevölkerung gehörten zur „Unterschicht“. Beckenbauers Mutter erlitt mehrere Fehlgeburten, was darauf zurückzuführen war, dass Giesing nach dem Krieg medizinisch unterversorgt war: Statistisch hatte ein Arzt 1 400 Menschen zu betreuen. Auch Franz kam mit Untergewicht zur Welt, sollte eigentlich ein Mädchen werden und Franziska heißen. Er war der vierte Junge der Familie, ihm folgten noch zwei Schwestern.
Ich weiß nicht, inwieweit mich die Menschen kennen. Natürlich kennen sie mich nicht so gut, wie ich mich selbst kenne. Ich hab manchmal Zweifel, ob ich mich selbst kenne.
Franz Beckenbauer
Die Beckenbauers wohnten in einem Vier-Zimmer-Appartment, fließendes Wasser und Toiletten gab es nur auf dem Gang, richtige Not aber nicht. Im Krieg wurde ihr Haus nicht zerstört, auch Flüchtlinge wurden ihnen nicht zugewiesen. Körner hält es für wichtig zu begreifen, welche ich-bezogene Mentalität in diesen Jahren heranwuchs, die sich seiner Meinung nach noch in den Titeln der Beckenbauer Biographien „Ich, wie es wirklich war“ und „Einer wie ich“ widerspiegeln sollte.
Beckenbauers eigentliches Kinderzimmer sollte der Sportplatz werden, der heute noch unmittelbar vor dem Haus zu finden ist. Zuerst sicherte er sich im Alter von fünf Jahren einen Stammplatz in der „Bowazu“-Mannschaft, in der nur Kinder aus der Bonifatius-, Watzmann- oder Zugspitzstraße spielen durften. Beim SC 1906 München stellte er sich drei Jahre später vor, durfte anfangs aber nur Freundschaftsspiele bestreiten.
Beckenbauer gelang schon als Kind alles
Es muss schwer gewesen sein, Beckenbauers Talent nicht zu erkennen. Mit den Handballern seiner Schule errang er die Stadtmeisterschaft, fiel bei den Bundesjugendspielen mit hervorragenden Leistungen auf oder machte beim Ball über die Schnur aus dem Mannschaftssport eine Solonummer. Er trat nicht nur beim SC 1906 München gegen den Ball, sondern auch in der Schul- und Kirchenmannschaft. Der Wechsel zum FC Bayern erfolgte mit zwölf Jahren, weil sich die Jugendabteilung des SC 1906 aufzulösen drohte und – eine hinreichend bekannte Anekdote – der Wechsel zum TSV 1860 platzte, weil ihm ein Löwen-Spieler eine Ohrfeige gab.
Obwohl er bei den Bayern in der A-Jugend ein Star war, wurde er in die A2 strafversetzt, als er mit 18 Jahren Vater eines unehelichen Kindes wurde – damals ein Skandal. Dabei schreibt Beckenbauer noch in Einer wie ich, dass er „nie Sehnsucht“ gehabt hätte, „Zigaretten zu rauchen, Bier zu trinken oder mit Mädchen in Haustüren zu stehen.“
Dann kommen die Mädchen dazu. Und dann ist Feierabend im Sport.
Aus einem Interview mit Siegfried Abramczik, dem Vater von Rüdiger Abramczik, in »Sind doch nicht alles Beckenbauers«
Sepp Herberger(!) persönlich korrigierte Beckenbauers „Fehltritt“ und setzte durch, dass der junge Kaiser wieder in Jugend-Länderspielen für Deutschland auflaufen durfte. Um aber niemanden zu „gefährden“, musste er fortan mit dem Trainer auf einem Zimmer liegen.
Zwei Jahre vor der WM 2006 besuchte Beckenbauer noch mal sein altes Domizil. Das Haus war eine Ruine, Graffiti an den Wänden, „überall zurückgelassenes, verwittertes Leben“, wie Körner schreibt, „kein Palast für Erinnerungen“.
Zehn Jahre später ist es kernsaniert, die Miete für eine Zwei-Zimmer-Wohnung kostet über 800 Euro Netto. Es hat sich viel getan in der letzten Dekade, auch bei Franz Beckenbauer. 2010 kam eine weitere Bildbiografie über ihn heraus, 2011 folgte „Franz – Botschaften eines Kaisers“. Eine Sammlung sinnbefreiter Thesen, die dank Rebuy statt zehn Euronen nur wenige Cent kostet. Den Briefträger wird das nicht interessieren. In Kürze steht der Bericht über die Bäckerei Klinsmann auf dem Plan. Und eine erneute Bestellung bei Rebuy.
Anschrift: Zugspitzstraße 6, 81541 München
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