Gelbe Wand, Dortmund

Im Oktober 2011 bin ich fremdgegangen, und meine Frau sah tatenlos dabei zu. Nur über allerbeste Kontakte sind wir noch an Karten für den Auftritt meines 1. FC Köln in Dortmund gekommen. Dafür nehmen wir auch eine Einschränkung in Kauf: Stehplätze auf der Süd, inmitten tausender schwarz-gelber Borussen.

Und die dürfen jubeln. Wieder und wieder und wieder. Bereits zur Halbzeit steht es 3:0 für den BVB, in der 50. Minute erhöht Robert Lewandowski auf 4:0. Ausgelassene Atmosphäre um uns herum, zwanghaft freudig auch meine Stimmung, um meine Tarnung aufrecht zu erhalten. Trotzdem mache ich offenbar einen gehemmten Eindruck: „Ey Alter, was issen los?“, will der Borusse vor mir wissen, mit dem ich mir schon bei den ersten drei Toren in den Armen liege. Ich sage ihm: „Ich traue dem Braten noch nicht. Ich glaube, die Kölner kommen noch!“ Dann nickt mein neuer Freund anerkennend ob meiner Analysekompetenz und rüffelt seine Kumpels: „Ey, das Ding ist noch lange nicht durch!“ Kollektive Zustimmung in der Gruppe. Die Spannung ist wieder auf dem Siedepunkt.

Bis heute können sich nicht nur BVB- und Effzeh-Fans an dieses Spiel erinnern. Denn bis zu dieser 50. Minute hatte der 1. FC Köln nicht einmal auf das Tor des BVB geschossen – und sollte es auch nicht in der nächsten halben Stunde tun. „Eines der einseitigsten Bundesligaspiele geht in seine letzten fünf Minuten“, sagte Steffen Simon damals während seines Sportschau-Berichts, um einen geblockten Podolski-Schuss als Torschuss zu werten – in der 85. Spielminute. Meine neuen Freunde in schwarz-gelbem Gewand zitterten umsonst: Am Ende gewann Borussia Dortmund 5:0.

Die Gelbe Wand erzählt eigene Geschichten

Ein Besuch auf der Süd, schon gibt’s eine Anekdote. Wie mag es bei den Menschen sein, die hier jeden zweiten Samstag hinkommen – und das seit zig Jahren? Die 11 Freunde hat im Oktober 2015 solche Erzählungen protokolliert und die Südtribüne zum Titelthema gemacht. „Es gibt nicht eine Südtribüne, sondern zwei. Die alte und die neue. Oder oben und unten“, schreibt Uli Hesse in dieser Ausgabe. Bevor er über seine Verbindung zur Süd erzählt, erläutert er: „Unten, das sind die Blöcke 10 bis 15“, um wenig später fortzusetzen: „Oben, das sind die Blöcke 80 bis 84, die 1998 auf den alten Teil der Tribüne draufgesetzt wurden“. Ergänzt man diese Zahlen um die Maße von Europas größter Stehplatztribüne, sind wir bei 100 Metern Breite, 32 Metern Tiefe, 40 Metern Höhe und einem Neigungswinkel von 37 Grad. Aber will man das eigentlich wissen? Es geht bei der Gelben Wand nicht um die kolossalen Daten, es geht um die Menschen, die sie bilden und um ihre Geschichten. Um „uns“, wie Uli Hesse das Kollektiv in der 11 Freunde nennt.

Im Sitzen gewinnt man keine Spiele. Stehend schon.

Uli Hesse

Auch der WDR-Dokumentarfilm „Wir die Wand“ aus dem Jahr 2013, mehr „eine beeindruckende Gesellschaftsstudie“ (Der Westen) als ein Fußball-Film, thematisiert solche Geschichten. Vor allem zeigt er aber, wie vielschichtig die Zusammensetzung der Menschen ist, die regelmäßig ihre Borussia anfeuern: Heinz, der ehemalige Bergmann, der die Kameradschaft auf der Südtribüne mit der unter Tage vergleicht: „Wir sind alle gleich. Das ist das Schöne daran“. Oder Mathias, der Mathematiker, der sich freut, dass auf der Süd so viele Menschen zu ihrem Verein stehen, „über alle Klassenschranken hinweg“. Auch Sachbearbeiterin Ute betont das breite Spektrum: „Man trifft auf der Südtribüne wirklich jede Gesellschaftsschicht.“

Das muss nicht immer gut sein. Denn die Süd hat Probleme mit dem rechten Lager der BVB-Fans. Das liegt einerseits daran, dass die Stadt Dortmund generell mit Rechtsextremismus zu kämpfen hat. Der Dortmunder Stadtteil Dorstfeld gilt als Hochburg der rechtsextremen Szene in Deutschland. „Es wäre einfach zu sagen, das ist ein Problem der Stadt Dortmund. Aber der BVB ist Teil der Stadt, von daher gibt es logischerweise auch Fans, die rechts sind“, erklärt Daniel Lörcher, der das Fan- und Jugendhaus des BVB betreut. Andererseits sah der Verein zu lange weg und änderte zu spät seine Medienstrategie. Inzwischen betreibt die Borussia Aufklärungsarbeit und organisiert beispielsweise Fahrten ins Konzentrationslager Auschwitz.

Wo einst Fans standen, stehen jetzt Kunden

Die Unterwanderung vom rechten Lager ist nicht das einzige Problem, mit der die größte Stehplatztribüne Europas zu kämpfen hat – und damit meine ich nicht die Tatsache, dass vor jedem Spiel ein Lied geschmettert wird, das eindeutig einem anderen Verein, nämlich dem FC Liverpool, zugeordnet wird. Auch wenn die Bundesliga-Profis gemäß einer Kicker-Umfrage noch immer am liebsten in Dortmund auflaufen: Die Stimmung hat sich verschlechtert. „Die Atmosphäre im Stadion von Borussia Dortmund, so hört man immer wieder, ist nicht mehr die gleiche wie noch vor einigen Jahren“, schrieb Der Westen im Juli dieses Jahres. Wo einst Fans standen, stehen jetzt immer mehr Kunden, auch ein Riss zwischen Verein und Fans wurde diskutiert.

Die Debatte um schwindende Stimmung gab es allerdings schon einmal, nämlich 1998, unmittelbar nachdem die neue auf die alte Tribüne gesetzt wurde. Es dauerte eine Weile, dann kam ein Mann, der am Spielfeldrand exaltierte und die Süd explodieren ließ: Jürgen Klopp. Zum Beispiel an einem Tag im Oktober 2011, an dem ich fremdgegangen bin. Und meine Frau tatenlos dabei zusah.

Anschrift: Signal-Iduna-Park, Strobelallee 50, 44139 Dortmund

Internet: https://suedtribuene-dortmund.de

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