Ansagerturm Suhl, Suhl

„Auch der Ostfußball hatte sein Tasmania“, schreibt die 11FREUNDE in Ausgabe 223, „denn 1984 verirrte sich die BSG Motor Suhl aus Thüringen in die DDR-Oberliga“. Tasmania Berlin stellte in seiner einzigen Bundesligasaison 1965/66 reihenweise Negativrekorde auf und rangiert in der ewigen Tabelle der Bundesliga bis heute auf dem letzten Platz. Und auch wenn einige der schlechtesten Bestmarken in den letzten Jahren gebrochen wurden, sind manche Rekorde der Neuköllner in Stein gemeißelt, wie der von lediglich 827 zahlenden Menschen beim Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach im Januar 1966.

Der Vergleich mit der BSG Motor Suhl hinkt allerdings gewaltig. Einerseits ist die sportlich maue Bilanz – nur ein Sieg und drei Unentschieden bei 22 Niederlagen und einer Tordifferenz von minus 76 – zwar ursächlich dafür, dass die BSG ebenfalls Letzter der ewigen Tabelle (eben der der DDR-Oberliga) ist, und mit nur einem Punkt aus den ersten 13 Partien spielte nie jemand eine schlechtere Hinserie, „aber das sind dann schon alle Negativrekorde des heutigen Suhler SV“, wie der Fußballhistoriker auf der Plattform X erklärt. Der VfB Pankow kassierte 1950/51 mehr Tore (131 in 34 Spielen, im Schnitt 3,85 Gegentore; die BSG 92 in 26 Spielen, was ein Mittel von 3,54 ergibt), die lediglich 16 erzielten Treffer teilt man sich mit Energie Cottbus (1973/74) und Suhl verlor nie zweistellig (so wie beispielsweise Anker Wismar 1949 beim Dresdner FC, 11:0).  

Die BSG war bereits mehrfach in der Aufstiegsrunde gescheitert

Andererseits hat man im Thüringer Wald durchaus positive Erinnerungen an das eine Jahr im Oberhaus des DDR-Fußballs. Ein Beleg dafür sind die Zuschauerzahlen. Wie die „FuWo“ 1985 auflistete, sahen im Schnitt 5 923 Menschen die Heimspiele im Sportpark der Freundschaft, allein beim Saisonauftakt gegen den FC Vorwärts Frankfurt waren es offiziell 9 000, inoffiziell sollen es zwischen 13 000 und 18 000(!) gewesen sein. Und auch bei den meisten Spielern ist das Abenteuer positiv konnotiert, wie Dieter Kurth, der im Oberliga-Jahr auf zwanzig Einsätze kam, in Danny Neidels Podcast Brennpunkt Orange erzählt: „Es hat sich absolut gelohnt, ich habe in den großen Stadien gespielt, ich habe gegen die prominenten Fußballer gespielt“, so der Mittelfeldspieler, der wusste: „Du wirst jetzt immer in deiner Vita stehen haben: Du hast Erstligaspiele“.

In den zehn Jahren vor dem Aufstieg war die BSG Motor Suhl Dauergast in der zweitklassigen DDR-Liga und vor ihrer Premiere in der DDR-Oberliga bereits mehrere Male in der Aufstiegsrunde gescheitert: Erst 1976 und 1979, dann 1981, dem Jahr, von dem Sektionsleiter Oskar Taschler später gegenüber dem Portal InThueringen.de sagte: „Der Oberliga-Aufstieg hätte schon 1981 passieren müssen“. Sozusagen beim letztmöglichen Versuch – 1985 wurde der Modus geändert – gelang die Sensation, von der das Magazin Zeitspiel schreibt, dass daran „so ziemlich alles Zufall gewesen“ wäre.  

Die Platzierungen der BSG Motor Suhl vor und nach der Spielzeit in der DDR-Oberliga:

1981/82: 3. Platz, DDR-Liga Staffel E
1982/83: 3. Platz, DDR-Liga Staffel E
1983/84: 1. Platz, DDR-Liga Staffel E
1985/86: 14. Platz, DDR-Liga Staffel B
1986/87: 11. Platz, DDR-Liga Staffel B
1987/88: 10. Platz, DDR-Liga Staffel B
1988/89: 3. Platz, DDR-Liga Staffel B
1989/90: 9. Platz, DDR-Liga Staffel B

„Wir konnten es alle nicht fassen. Aufzusteigen in die erste Liga, war damals sensationell für Suhl“, sagt Uwe Büchel gegenüber InSuedthueringen.de. Er hatte den Treffer erzielt, der Suhl zum (angeblichen) Tasmania Berlin des Ostfußballs machte. Und dennoch war die Entwicklung vielleicht doch nicht ganz so zufällig, wie sie heute gemacht wird. „Das war diese Zeit in der DDR, in der man den Fußball in den Bezirksstädten konzentrieren wollte“, erklärt Danny Neidel in dem obengenannten Podcast. In den Städten im Thüringer Wald wurde der Schwerpunkt zwar auf den Wintersport gelegt, aber der fußballerische Fokus lag nicht auf Lok Meiningen oder dem früheren Erstligisten BSG Motor Steinach, sondern auf der BSG Motor Suhl. Dieter Kurth: „Man hat auch Leute dazugeholt, […] da hat man schon gemerkt: Es konzentriert sich auf Suhl.“ Der Tenor in der Waffenstadt sei außerdem gewesen, dass „wenn wir wieder in der Aufstiegsrunde sind, wenn wir das schaffen, dann wollen wir auch, gegen alle Widerstände“.

Die bekamen sie während der Saison von Verbandsseite zu spüren, ob durch skurrile Schiedsrichterentscheidungen oder bei den monatlichen Treffen der Vereinsbosse in Berlin: „Ich habe mich manchmal gefragt, warum ich überhaupt nach Berlin fahre. Sie haben uns merken lassen, dass wir unerwünscht waren“, wird Oskar Taschler auf InSuedthueringen.de zitiert. Auch in der Mannschaft wurde die Stimmung schlechter: Aufstiegsheld Uwe Büchel wurde geschasst, weil er sich bei einem Friseurbesuch die Haare blond färben ließ und ihn ein Korrekturversuch zum Rotschopf machte. Abwehrchef Wolfgang Reuter ging nach 18 Spielen, weil er „Riesenprobleme mit dem Trainer Ernst Kurth“ hatte, wie er InSuedthueringen.de erzählt. Und auch Erhard Mosert, Spielführer der Aufstiegsmannschaft und ehemaliger DDR-Nationalspieler, sieht Trainer Kurth nicht ganz schuldlos: „Er hat zu sehr auf die allgemeine Euphorie und die jungen Spieler gesetzt, die null Erfahrungen hatten. Das konnte nur voll vor den Baum gehen.“

„Es gab die klare Richtlinie, dass wir wieder absteigen sollen.“

Ernst Kurth

Und das ging es sportlich ja auch. Die Mannschaft war für die DDR-Oberliga einfach nicht gut genug, da sind sich heute alle einig. Von den Neuzugängen, die nur aus dem Bezirk rekrutiert werden konnten, war lediglich der aus Brotterode stammende Henry Lesser eine echte Verstärkung. Der weist auf Jonas Schultes Seite Groundblogging.de auf ein weiteres Problem hin: „Wenn man alleine gesehen hat, wie wir trainiert haben. Dass wir das Krafttraining im Kabinengang machen mussten, dass wir mangels Platz nicht immer in Suhl trainieren konnten, sondern mit dem Bus nach Meiningen fahren mussten. Daran sieht man schon, dass die Bedingungen nicht vergleichbar waren, die ich dann nachher in Jena erlebt habe.“ Sein Mannschaftskollege Dieter Kurth stimmt ihm zu: „Die Bedingungen waren nicht erstligareif, definitiv nicht.“

Der Ansagerturm kam erst mit dem Aufstieg in die DDR-Oberliga

Das galt auch für das Stadion, das für die Oberliga hochgepetert werden musste. „Der Sportpark war in den acht Wochen vom Aufstieg bis zum ersten Punktspiel eine einzige Baustelle“, erinnert sich Olaf Taschler auf InSuedthueringen.de. Eine Holztribüne wurde auf der Gegenseite installiert, dazu ein gewaltiger Zaun, „der den ‚Sportpark der Freundschaft‘ in der kurzen Sommerpause 1984 in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt hatte“ (InSuedthueringen.de), außerdem Toilettenhäuschen für die Zuschauerinnen und Zuschauer sowie ein Kabinenanbau. Und eben die Anzeigetafel und die Sprecherkabine, die heute reihenweise Groundhopper nach Thüringen locken.

„Sie sind nicht die Ersten, die wegen des Ansagerturms herkommen“, sagt Harald Günzler bei unserem Besuch in der Waffenstadt. Seit über vierzig Jahren steigt er bei den Spielen der Suhler die blaue Metalltreppe hinauf, um seinen Job als Stadionsprecher auszuführen. „Rechts, da sitze ich“, erzählt er und bedient aus seiner Sprecherkabine heraus die markante Anzeigetafel, die hinter dem Tor steht: „Die Null geht nicht mehr, ansonsten funktioniert die seit ihrer Installation reibungslos.“ Die Mitte des Ansagerturms ist für die Presse reserviert, die linke Kabine für das Fernsehen.

Die „Wohnscheibe“ erstreckte sich über die gesamte Spielfeldlänge hinter dem Ansagerturm

Damit beginnt die letzte Episode, die vom Suhler Erstligaausflug erzählt werden muss: Die der sogenannten „Wohnscheibe“, dem „größte[n] Plattenbau Südthüringens mit neun Eingängen und 396 Wohneinheiten“ (InThueringen.de), in dessen Schatten der Sportpark der Freundschaft lag. In dem Wohnblock deponierte das DDR-Fernsehen für die Berichterstattung seine Kameras, weil im Stadion kein Platz dafür war. „Der hatte, ich glaube auf der siebten Etage, durchgängig einen Flur mit Fenstern“, erinnert sich Dieter Kurth, der selbst dort wohnte. Wer, wie bei der Premiere gegen Frankfurt, keine Karte bekam, fand in dem Plattenbau, der sich über die gesamte Gerade hinter dem Ansagerturm erstreckte, allerbeste Sichtverhältnisse.

Heute kommt das Fernsehen nur noch, wenn es um Berichte über die Oberliga-Saison 1984/85 geht, denn für Spiele gegen Gospenroda oder Hildburghausen schicken weder Sky noch DAZN ihre Kamerateams in den Süden Thüringens. 37 000 Menschen leben heute in Suhl, damit ist sie „die deutsche Kommune, die seit der Wiedervereinigung so viel Bevölkerung verloren hat wie keine andere“, wie die WELT im September 2020 berichtete. In dem einstigen „industriellen Musterstandort“ gab es nach der Wende einen Bevölkerungsrückgang von rund 40 Prozent, „auch, weil das Simson-Werk längst geschlossen ist“ (Sport im Osten). Zu DDR-Zeiten war das Werk der Trägerbetrieb und damit so etwas wie der Hauptsponsor der Fußballer.

Der einstige Sportpark der Freundschaft trägt inzwischen den Namen „Auestadion“. Zieht man die „Wohnscheibe“ und die Holztribüne auf der Gegenseite ab, hat sich nicht viel verändert. Heiko Brumme, der 1988 zur BSG wechselte, sekundiert gegenüber dem Portal InSuedthueringen.de: „Es sieht hier noch so aus wie früher“.

Anschrift: Ansagerturm im Auestadion, Auenstraße 1, 98529 Suhl

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