Kurt-Bürger-Stadion, Wismar

Und dann kam während der Recherchephase der Moment, in dem es anfing, in den Fingern zu jucken. Der Moment, in dem es nicht mehr nur um Texte und Bilddokumente ging, sondern um den direkten Kontakt zu einem der Schauspieler. Im Kurt-Bürger-Stadion wurde 1960 der Film „Der neue Fimmel“ gedreht und einer der Hauptdarsteller war Hans-Jürgen Meinshausen. Kein Name, der im Telefonbuch so opulent vorhanden ist wie Peter Müller oder Hans Meier, sondern einer, der dort nur ein einziges Mal auftaucht. Und da ist er, mein Zugang zu Anekdoten, Informationen und Geschichten, die über das normale Maß hinausgehen und die selbst das Internet noch nicht kennt. Der Zugang zu einem Goldtopf, der nicht am Ende des Regenbogens steht, sondern in Wismar.

Der Inhalt des Films ist schnell zusammengefasst: Das Leben der „völlig absorbierten Kinder“ (Fußball im Film – Lexikon des Fußballfilms) des fiktiven Ortes Hangelin dreht sich nur noch um den „neuen Fimmel“, den Fußball. Sie wandeln den stillgelegten Schuttplatz in ein Spielfeld um und gewinnen den Oberligaspieler Kuddel Moll von der örtlichen Werksmannschaft Motor Schiffswerft als Trainer. Um selbst zur Motor Schiffswerft zu gehören und damit eine richtige Mannschaft zu werden, müssen sie das Spiel gegen die Lessing-Schule gewinnen. Allerdings fehlt ihnen mit Rudi Kallenbach alias Hans-Jürgen Meinshausen der beste Kicker, da schlechte schulische Leistungen zum Ausschluss aus der Mannschaft führen.

Da werden im Kampf um den Ball Passanten angerempelt, Straßen werden in leichtsinniger Manier überquert (…)

Fußball im Film – Das Lexikon des Fußballfilms

Rhetorische Frage: Ob es gelingt, die Begeisterung für den Fußball und die Notwendigkeit guter schulischer Leistungen miteinander zu vereinbaren? Ein Tipp kommt aus dem Lexikon des Fußballfilms, das ein didaktisches Konzept von Ostblockfilmen erklärt: „Die Fußballleidenschaft der Kinder und Jugendlichen wird durchaus geachtet, sogar gefördert, aber die Kinder müssen zugleich die Lektion lernen, daß ihre schulischen Leistungen […] nicht darunter leiden dürfen.“

Manches im Kurt-Bürger-Stadion sieht noch so aus wie vor 60 Jahren

„Ob er wirklich kein guter Schüler war?“ Wieder einmal ertappe ich mich dabei, wie Hans-Jürgen Meinshausen in meinem Kopf herumschwirrt. Seitdem ich ihn im Telefonbuch gefunden habe, denke ich ständig an ihn. Wenn ich im Auto sitze. Wenn ich durch den Wald laufe. Wenn meine Aufmerksamkeitsspanne im Kino nachlässt. Als wäre ich nochmal 14 und total verknallt, aber nicht in Anja aus der Parallelklasse, sondern in Hans-Jürgen Meinshausen. Im Lexikon des Fußballfilms steht, dass die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler Laiendarsteller waren, die aus den Jungen Pionieren rekrutiert wurden. Ob Hans-Jürgen Meinshausen danach überhaupt noch mal als Schauspieler aktiv war? Kann ich ihn ja fragen.

Ich werde ihn auch fragen, was er darüber denkt, dass die Schnitte in „Der neue Fimmel“ nicht immer Sinn ergeben und er und seine Freunde auch schon mal bei einem gewöhnlichen Pressschlag exaltieren. Oder ob er sich an die überdimensionale Schiffsattrappe auf der Gegengeraden erinnern kann, die heute nicht mehr vorhanden ist. Der Eingangsbereich des Drehorts sieht dagegen heute noch so aus wie vor sechzig Jahren, auch andere Teile des Stadions erkennt man leicht wieder.

Das trägt den Namen des 1951 verstorbenen Politikers Kurt Bürger, der kurzzeitig Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern war. Im September 1952 wurde das Kurt-Bürger-Stadion nach der Fertigstellung des letzten von drei Bauabschnitten eingeweiht. Als Chemie Leipzig zu diesem Anlass in Wismar gastierte, sahen 16 000 Menschen in dem 15 000 Zuschauerinnen und Zuschauer fassenden Stadion zu – der nach wie vor gültige Rekord. Die Fußballer der BSG Schiffsreparaturwerft hatten sich die Kulisse redlich verdient, schließlich spielten sie in dem Stadion, an dem sie selbst tatkräftig gewerkelt hatten: An zwei Tagen in der Woche halfen sie nach Feierabend beim Bau des Stadions mit.

Die Kapazität des Kurt-Bürger-Stadions sank um rund 75%

 „Die Gestaltung ist prägnant einfach, erinnert an klassische Vorbilder und die Heimatschutz-Architektur der Zwischenkriegszeit“, heißt es auf der Seite industrie-kultur.de. Seit 2008 steht das Stadion, in dem der für die Hansestadt typische rote Backstein dominiert, unter Denkmalschutz. Die letzte Sanierung fand 2019 statt, eine knappe halbe Million Euro floss in einen neuen Rasen inklusive Bewässerungsanlage und in die Erneuerung der Leichtathletikanlagen. Heute ist das Kurt-Bürger-Stadion noch für 4 000 Personen zugelassen, große Teile der Sitzreihen wurden abgetragen. Was auf der einen Seite erhebliche Auswirkungen auf die Kapazität des Stadions hat, garantiert ihm andererseits eine gewisse Einmaligkeit. Darüber hinaus finden Freunde des (Fußball-)Filmtourismus einen nahezu unveränderten Drehort vor. Was das Museum of Art mit seiner legendären Treppe für „Rocky“ ist, ist das Kurt-Bürger-Stadion für „Der neue Fimmel“. Und der Filmheld heißt nicht Rocky Balboa, sondern Rudi Kallenbach.

Und den rufe ich jetzt an. Die Fragen sind vorbereitet, der eine Kugelschreiber in der Hand, der andere daneben, nur für den Fall der Fälle. Ich wähle die Nummer. Es klingelt, wenige Sekunden später spreche ich mit Hans-Jürgen Meinshausen. Ich stelle mich vor und schildere mein Anliegen. „Tut mir leid, das bin ich nicht!“, sagt er kurz und knapp. Und ich meine an seiner Intonation zu erkennen: Du bist nicht der erste Blödmann, der hier anruft, die Quote derer, die in ihrem Leben einmal mit Rudi Kallenbach sprechen wollen, ist exorbitant hoch. Aber bevor ich fragen kann, ob er sich nicht irrt, ob sein Mitwirken an diesem epochalen Kammerspiel nicht einfach in Vergessenheit geraten ist, hat er aufgelegt. Und dann kam während der Recherchephase der Moment, in dem es meiner Frau in den Fingern juckte und sie mir den Vogel zeigte.

Anschrift: Kurt-Bürger-Stadion, Bürgermeister-Haupt-Straße 46-48, 23966 Wismar

Internet: https://www.fc-anker.de/verein/stadion/

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