„Für uns als Kinder war das immer ein Highlight“, sagt Jupp, wenn er sich an die goldenen Zeiten des TSV Marl-Hüls zurückerinnert. „Sonntags ging es zuerst aufn Platz, mit der Tröte, mit der Rassel. Die Straßen waren voll und alle pilgerten ins Jahnstadion. Und wenn man nach dem Spiel noch Geld über hatte, kaufte man sich ein Eis.“ Jupp ist Jahrgang 1958 und spricht in bestem Ruhrpottdeutsch von den Sechzigerjahren, seinem Heimatverein und einem Stadion, das nach seiner Wiedereröffnung 1964 zu den modernsten Deutschlands zählte.
Als dem TSV einige Jahre zuvor der Aufstieg in die Oberliga West gelang und er sich zwischen 1960 und 1963 mit Mannschaften wie Schalke 04, Borussia Dortmund oder dem 1. FC Köln messen konnte, bot das Stadion noch ein trauriges Bild. „Die hohen, aus Schutt und Asche aufgeschütteten Erdwälle waren teilweise zerfallen und versperrten die Sicht nach außen“, heißt es in dem Buch Es war einmal ein Stadion. Die Stadtväter beschlossen 1962 die Neugestaltung des Jahnstadions, dessen Einweihung im August 1964 mit einem Freundschaftsspiel gegen den deutschen Vizemeister aus Duisburg gefeiert wurde.
Das Jahnstadion kostete 2 692 333 DM
Der TSV Marl-Hüls entschied sich bewusst gegen die neugegründete Bundesliga und empfing in seinem rund 2 500 000 DM teuren Schmuckkästchen fortan die Gegner der Regionalliga West. Die bewunderten eine Tribüne mit einem außergewöhnlichen Dach, „eine leicht schwebende Konstruktion, die damals in Abwandlung nur noch aus dem Brückenbau bekannt war“, wie Das große Buch der deutschen Fußballstadien erklärt. Eine weitere Besonderheit waren die 48(!) Ausgänge, die für einen schnellen Abgang der maximal 36 000 Zuschauerinnen und Zuschauer sorgten.
Dazu kam es allerdings nie. 18 000 Menschen besuchten 1964 ein hochkarätig besetztes Jugendturnier mit Real Madrid und Inter Mailand, so viele Besucherinnen und Besucher sah das Jahnstadion danach nie wieder. Es war für eine Stadt wie Marl einfach vollkommen überdimensioniert.
Eine solche Konstruktion ist für diesen Zweck noch nicht verwandt worden. Sie wurde erst für diese spezielle Situation entwickelt.
Aribert Riege, Architekt des Jahnstadions
Trotzdem ist es für Jupp eine Reminiszenz an eine „tolle Zeit“. „Man hat die Mannschaft vor Auswärtsspielen in der Kneipe getroffen, dann ist man im Bus mitgefahren, das hatte eine andere Nähe.“ Besonders ein Spieler hatte ein offenes Ohr für die Anhänger: Herbert Lütkebohmert. „Ein Kampfspieler, laufstark und mit einem guten Schuss“, erinnert sich Jupp. Lütkebohmert wechselte später zu Schalke 04 und wäre 1974 Weltmeister geworden, wenn er nicht Teil des Bundesliga-Skandals gewesen wäre. Lütkebohmert steht sinnbildlich für eine ganze Reihe von Leistungsträgern, die den „Blauen Funken“ irgendwann den Rücken kehrten. Die Fans von Alemannia Aachen machten ein Lied daraus: „Wir brauchen keinen Seeler, wir brauchen keinen Brülls, wir kaufen unsere Spieler bei Marl-Hüls!“
Der Erfolg und dessen Ausbleiben hingen beim TSV eng mit der örtlichen Zeche zusammen – wie in so vielen Bergbaustädten. „Die Führungskräfte des Bergwerks füllten zu einem großen Teil auch Ämter beim Fußballclub aus“, schreibt Klaus-Hendrik Mester in Fußball leben im Ruhrgebiet und ergänzt: „Anfang der 1960er-Jahre waren fast alle Spieler bei der ‚Auguste Victoria‘ beschäftigt.“ Dass Manfred Karjan zu Beginn der Siebzigerjahre das letzte Vorstandsmitglied des Vereins war, der auch in der Zeche arbeitete, war alles andere als ein Zufall. Für den TSV Marl-Hüls ging es immer weiter bergab, langsam, aber stetig, bis in die achte Spielklasse. Das letzte Spiel im Jahnstadion bestritten die Blau-Weißen bereits im Juli 2004. Knapp über 1 000 Menschen feierten den Abschied bei einem 0:12 gegen Alemannia Aachen – nach 77 Jahren an diesem Ort.
Inzwischen sind die Baseballer ins Jahnstadion eingezogen
Der einst so moderne Platz litt zu dieser Zeit an einigen Kinderkrankheiten, für die weder die Stadt Marl noch der TSV aufkommen wollten. Selbst der Abriss stand zur Diskussion, war aber ebenfalls zu kostspielig. Inzwischen ist die Tribüne baufällig. Das einst so revolutionäre Dach wurde als einsturzgefährdet eingestuft, eine Einschätzung, die inzwischen widerlegt werden konnte. Da helfen auch die Maßnahmen der örtlichen Baseball-Mannschaft wenig. Die Sly Dogs zogen 2008 ins Jahnstadion ein und befreiten u. a. die Stehplatzgerade von Büschen und Sträuchern. Das Ende ihrer Zeit im Jahnstadion ist absehbar. Das Gelände soll in ein luxuriöses Wohnbaugebiet umgewandelt werden, die Bürgerinitiative Marl-Hüls kämpft dagegen an.
„Natürlich kommt da Wehmut auf, wenn ich heute am Stadion vorbeifahre“, sagt Jupp. Nicht nur das Jahnstadion gibt ein trauriges Bild ab, auch der Marler Fußball. Für die Rückkehr in die Oberliga Westfalen (2015 bis 2018) bezahlte der TSV einen hohen Preis. Dem Insolvenzantrag folgte Anfang 2019 die Auflösung des Vereins, inzwischen wurde er wiedergegründet. Der einstige Oberligist SpVg Marl, der in den Neunzigerjahren zu Spitzenspielen ins Jahnstadion auswich, fusionierte mit zwei weiteren Klubs zum FC Marl. Die beiden einstigen Aushängeschilder des Marler Fußballs spielen inzwischen jenseits aller Ambitionen auf anderen Plätzen.
Adresse: Jahnstadion, Hülsstraße 69, 45772 Marl-Hüls
Schreibe einen Kommentar