Die Kulisse kenne ich aus dem Fernsehen. Normalerweise empfängt VOX-Moderator Amiaz Habtu zwischen den Bäumen des opulenten Innenhofs ambitionierte Unternehmensgründer, bevor sie in der „Höhle der Löwen“ darauf hoffen, für ihre geniale Idee einen Investor zu finden. Eine Paradoxie, denn gleichzeitig ist dieser Ort Schauplatz einer Idee, die alles andere als genial, sondern so minderbemittelt ist wie keine zweite: Die des Videobeweises. Es verwundert mich daher nicht, dass die im Boden eingelassene Stahltür, zu der es die Treppenstufen hinunter in den „Kölner Keller“ gehen soll, von zwei Männern bewacht wird, die gerade in der Massephase zu stecken scheinen. Würden sie da nicht stehen – breit gebaut, braun gebrannt, 100 Kilo Hantelbank –, hätte ich lange nach dem Eingang suchen können, hier im Innenhof der CBC Cologne Broadcasting Center GmbH am Picassoplatz in Köln-Deutz.
Als ich auf die Männer zugehe, versperren sie den Weg zur Tür. Eine Bewegung, die sie nicht zum ersten Mal machen und die so durchchoreographiert ist, als hätte DJ Bobo seine Moves im Spiel. Zeitgleich fährt ein Periskop aus der Erde heraus, dreht sich einmal um 360 Grad und verschwindet wieder. An der Bauart erkenne ich: Das ist aus dem YPS-Heft Nr. 547, Teil 2 von 5 der Detektiv-Serie. Auch hier: Mehr Schein als Sein beim DFB.
Der Kölner Keller trägt offiziell den Namen „Video Assist Center“
Ein Sprichwort sagt: Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere. Für mich müsste es lauten: Finde jemanden, der dir die verschlossene Tür öffnet. So wie für die Medienvertreter, die im April 2019 erstmals Zutritt zu den Räumlichkeiten bekamen, die offiziell den Namen „Video Assist Center“ tragen. Was die Journaille damals nicht wusste: Was sie gezeigt bekamen, war ein perfektes Kammerspiel, maximal hochgejazzt, um den Menschen vor den Fernsehgeräten allwöchentlich ein Gefühl von Vertrauen und Zuverlässigkeit zu geben. Aber 11km.de liegen von Relotuis-Leaks übermittelte Informationen sowie Fotomaterial äußerster Brisanz vor, die beweisen: Was jede Woche im Broadcasting Bunker von Köln passiert, hat mit Vertrauen und Zuverlässigkeit nichts zu tun.
Sommer 1994. Im „Kicker“ taucht zum ersten Mal der Begriff „Videobeweis“ auf. Das Fachblatt schreibt: „Die Disziplinar-Kommission der FIFA hat beschlossen, bei umstrittenen Spielsituationen Videoaufnahmen als Beweis zuzulassen. Gefällte Tatsachenentscheidungen werden jedoch nicht aufgehoben.“ Wenige Wochen später verhängt die Kommission eine achtwöchige Sperre gegen den Italiener Mauro Tassotti. Er hatte im WM-Viertelfinale den Spanier Luis Enrique mit einem Ellenbogencheck niedergestreckt. Auf Vereinsebene war es dagegen in einigen Ländern ab den Siebzigerjahren üblich, TV-Bilder als Beweismittel vor dem Sportgericht einzusetzen.
In Deutschland sprachen sich die Bundesliga-Profis sogar noch kurz vor der WM 2006 gegen technische Hilfsmittel aus: „Ein richtiger Video-Beweis und eine sofortige Bestrafung während einer laufenden Begegnung […] wird trotz tollster Technik weitestgehend abgelehnt“, ermittelte der Kicker in einer Umfrage. „Trotzdem kam das Thema immer wieder auf die Agenda, wenn jemand durch grobe Fehlentscheidungen benachteiligt wurde“, erzählt uns „Manu“. Er ist mein Türöffner zum Kölner Keller. Sein richtiger Name ist mir bekannt, wurde aber bis zur Unkenntlichkeit von mir geändert. Als Beispiel nennt Manu das Tor des Spielers Olaf Marschall, der im Dezember 1999 einen regulären Treffer erzielte, der von Hellmut Krug aberkannt wurde.
Der „Kicker“ fragt im Dezember 1999 seine Leserinnen und Leser: „Soll im Profi-Fußball der Video-Beweis eingeführt werden?“ 1684 Menschen nehmen an der Umfrage teil, 50,2 Prozent sprechen sich dafür, 49,8 Prozent dagegen aus.
Als der DFB infolge des Sommermärchens im Geld schwamm, wurde dem Verband zum Verhängnis, dass er immer nur von alten, weißen Männern geführt wurde – und dass sich in Deutschland der Niedergang einer anderen Branche anbahnte. „1980 begann der Boom des Videoverleihs“, erklärt Christian Berndt auf Deutschlandfunk-Kultur. Was Berndt meint: Jeder hatte damals in seinem Portemonnaie einen Ausweis, um sich Videofilme auszuleihen, für die er eine Mark Strafgebühr bezahlen musste, wenn er das Zurückspulen bei der Rückgabe vergessen hatte. Ein Vierteljahrhundert später setzte durch das Streaming im Internet – erst illegal, dann legal – ab 2006 langsam das Videothekensterben ein, in dem der DFB eine große Chance sah. „Die hörten nur irgendetwas von Video, setzten Mittelsmänner ein und kauften Laster voller Videokassetten“, sagt Manu und ergänzt: „DVDs hielten sie für modernen Schnickschnack“.
Als zur Saison 2016/2017 das Video Assist Center testweise eingeführt werden sollte, sah sich der DFB gut aufgestellt – „haben wir schon“, soll es aus DFB-Kreisen geheißen haben. Wer diese Aussage konkret tätigte, wollen weder Manu noch Relotius-Leaks aufdecken und sprechen nur von „The Jug“. So wie für ihn haben sie für jeden Beteiligten einen Namen. Immerhin: Der DFB hatte die weltweit größte Filmsammlung angehäuft, archiviert und zurückgespult. „Viele der Filme hatte man bis zu zwanzig Mal. In der Zeit fiel an der Otto-Fleck-Schneise das erste Mal der Begriff des Colooking Space“, berichtet Manu.
Der Kölner Keller ist „das Bernsteinzimmer der Cineasten“
Die Schiedsrichter-Gilde fand im Kölner Keller ein Paradies für Videofilm-Freaks vor. Die explosiven Bilder, die mein Kontakt nach draußen schmuggelte, zeigen eine riesige Leinwand, eine exorbitante Wohnlandschaft, Kuscheldecken und Clogs aus Veloursleder mit eingestickten Initialen eines jeden Schiedsrichters. Dazu ein Kaffee-Vollautomat, ein Popcorn-Vollautomat, ein Pommes-Vollautomat und ein Nacho mit Käsesauce-Vollautomat. „Das Bernsteinzimmer der Cineasten“, meint Manu. In einem angeschlossenen Saal, so sagt er, sei die Ausleihe, für die der DFB eigens einen Archivar angestellt hätte. Die Keller-Konditorin sei dagegen entlassen worden, als die Butterpreise in die Höhe gingen.
Mit ihrem Aus gab es die ersten Unstimmigkeiten in der Gruppe, die nach außen stets so geschlossen wirkte. „Anfangs wollte man das hohe Niveau halten und brachte Frischgebackenes mit“, berichtet Manu. Dann wollte „SvenJa“ eine Bunte Sahne Platte als Eigenkreation verkaufen. „Der pfeift so spröde, da war klar: für solche Sahnerosetten fehlt ihm die Fingerfertigkeit“, urteilt Manu. „Da wussten alle: Die ist vom Eismann.“ Viele der Referees hätten zudem über die Jahre einen ganz feinen Gaumen entwickelt. Manu: „Als ausgerechnet ‚The Jug‘ den von ihn aufgebauten Gourmet-Tempel mit Quarkbällchen vom Bäcker betrat, betrachteten das viele als Affront.“
Nicht der einzige. „Die Zeiten, als gemeinsam zu ‚Schlaflos in Seattle‘ geweint wurde, sind lange vorbei“, bedauert Manu. Immer wieder hätte es Unstimmigkeiten bis zur Eskalation gegeben. „Als das ‚Blümchen‘ bei Titanic überrascht war, dass das Schiff am Ende sinkt, wurde SvenJa ungehalten“, erzählt Manu. SvenJa sei „ein Strippenzieher“ und „bis in die obersten Kreise gut vernetzt“. Die Folge: Das Blümchen pfeift jetzt gar nicht mehr. Um seine Macht zu demonstrieren, hätte SvenJa eine Zeit lang ein „Stirb langsam“-T-Shirt getragen und die jungen Kollegen damit eingeschüchtert.
„Der Club der toten Dichter“ stand auf dem Index
Zum endgültigen Bruch sei es aber gekommen, als sich „DJ Den“ vom „Club der toten Dichter“ inspirieren ließ und eine Gruppe junger Frauen mit in den Keller brachte. An der Stelle zeigt sich Manu reflektiert: „Wir sind alle Best Ager, natürlich braucht man irgendwann die Bestätigung“. Das Interesse der Frauen hätte allerdings schlagartig nachgelassen, als sie hörten, dass es sich bei den Männern, die da saßen, um Schiedsrichter handle. „Eine sagte ganz offen, dass sie sich am Abend noch mit jemandem träfe, der getrocknete Schmetterlinge sammle“, sagt Manu. Dann geht sein Blick nach unten. Die Frau hätten sie nie wieder gesehen. Den Keller für Externe zu öffnen, empfand die Gruppe unisono als Verrat. „Der Club der toten Dichter“ habe bei den Oberen zudem auf dem Index der verbotenen Filme gestanden. Sie sahen den Subtext des Films als zu gefährlich an: „Selbstständig Denken, das will beim DFB keiner“, sagt Manu.
Im Gebäude von RTL. Das erklärt schon einiges…
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Wenig später wurde der Keller für die Medien freigegeben, nachdem der Druck zunehmend wuchs. „Es war klar, dass das so kommen musste. Wir haben ja mit unseren Entscheidungen an Glaubwürdigkeit verloren“, sagt Manu. In der Kammer, in der die Keller-Konditorin ihre Buttervorräte lagerte, stellte man eilig ein paar Flachbildschirme und einen großen Schreibtisch hin. „Ebay Kleinanzeigen!“, sagt Manu und lacht. Auf DAZN-Kommentator Sebastian Kneißl angesprochen, der kürzlich in den Kölner Keller eingeladen wurde und von einer „höchst spannenden Erfahrung“ sprach, schüttelt Manu nur den Kopf: „Das möchte ich nicht kommentieren“.
Wehmut klingt aus seiner Stimme. Wer, wie er, auch mal ein Biopic sehen möchte oder nicht gerne überbackene Nachos isst, wird rücksichtslos aussortiert. „Gegenüber den Medien werden derartige Entscheidungen mit Altersbeschränkungen, Fitnesswerten und mangelnder Konstanz erklärt“, sagt Manu. Ein Stück weit tue es ihm leid, nicht mehr dazuzugehören, „aber das hatte seine Zeit“. Es sei, so sagt er, „wie bei seinem Lieblingsfilm“. Auf die Frage, welcher das sei, antwortet er: „Eine Frage der Ehre“.
Fotoquelle: Imago Images
Anschrift: Kölner Keller (Video Assistant Center), Picassoplatz 1b, 50679 Köln
Link-Tipp:
Petra Tabarelli hat die Geschichte des Videobeweises in ihrem Blog Nachspielzeiten aufgearbeitet.
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