Ich bin irgendwo in Ostwestfalen, als mich Mirco Robus anruft. Mircos Name sagt mir etwas, er begegnet mir immer wieder, wenn ich in der Thüringer Lokalpresse recherchiere, aber persönlich kenne ich Mirco nicht. In unserem Telefonat geht es um einen Bericht über das Kaffeetälchen in Tiefenort, er stellt Fragen, ich antworte, wir reden über Fußball, die anstehende Europameisterschaft im eigenen Land und über mein Buch „Fußball – eine Deutschlandreise“, in dem, wie Mirco meint, „ein Ort fehle“.
Dass ich diesen Ort – welcher auch immer das sein mag – kenne, steht für mich in diesem Moment außer Frage. Es gibt weit über einhundert Fußballorte, die ich besucht habe, die aber noch nicht in diesem Blog auftauchen – das Recherchieren und das Schreiben kosten nun mal Zeit. Dann kommt Mirco zur Sache: „Kennst du das Stadion in Fürstenberg an der Oder, ein Vorzeigestadion aus den Zwanzigerjahren?“ Kenne ich tatsächlich nicht, gehört habe ich davon auch noch nie. „Dann wird sich das ändern“, sagt Mirco, „du wirst in Kürze in Kenntnis gesetzt“.
Wenige Tage danach liegt eine überdimensionale Postkarte in meinem Briefkasten, auf der Vorderseite ist das Stadion Fürstenberg abgebildet, auf der Rückseite steht unter anderem: „Die Stadt Eisenhüttenstadt erwägt eine Schließung der Anlage“, dazu die E-Mail-Adresse von Frank Ganskow. Ich schreibe Frank, es geht hin und es geht her, wir vereinbaren einen Termin und jetzt bin ich auf dem Weg nach Fürstenberg, um das Stadion kennenzulernen, das mir nichts sagt. Die Sonne und der Nebel wechseln sich ab wie die Bundesländer, die ich durchquere, bis ich nach rund vier Autostunden an einem der östlichsten Punkte der Republik ankomme.
Fürstenberg gehört seit 1961 zu Eisenhüttenstadt
Rund 5 000 Menschen leben in der Stadt, die 1961 eingemeindet und gemeinsam mit Stalinstadt zu Eisenhüttenstadt wurde. „Zwangseingemeindet“, sagt Frank, als er in seinem VW T-Roc mit mir durch Fürstenberg fährt. Frank, Anfang 60, ist so ein Typ, der seine Fußballbücher nicht nur im Regal, sondern auch im Kopf hat. Seine Sätze bieten wenig Spielraum zur Interpretation, was er sagt, das meint er auch so.
Frank zeigt mir Straßenzüge, auf denen ganze Häuserreihen standen, die erst enteignet und dann plattgemacht wurden und man merkt, dass er auf „die da drüben“ aus Eisenhüttenstadt gerne verzichtet hätte – und das, obwohl er zum Zeitpunkt der Zwangseingemeindung noch gar nicht auf der Welt war. Am Lindenplatz halten wir an. Dort treffen wir Erich, der sich zusammen mit Frank in der Bürgervereinigung Fürstenberg für die Belange seiner Stadt einsetzt. Wir gehen zuerst über eine Brücke, unter der der Oder-Spree-Kanal fließt, und danach durch das Arboretum, das mit seiner grünen Vielfalt einzigartig ist. „Ein Baum für jeden Fürstenberger, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist“, erklärt Erich, „169 an der Zahl.“ Der Weg durch das Arboretum ist vielleicht der spektakulärste zu einem Stadion in Deutschland, trotz Karlsruhe, trotz Nordhausen. Das Arboretum sieht nicht nur aus wie eine Parkanlage, hier herrscht auch die entsprechende, sonntagnachmittagstypfische Atmosphäre. Oder anders: In diesem Moment ist für mich völlig abwegig, dass wir gleich vor einem Stadion stehen werden. Keine Mannschaft, die sich zur Abfahrt trifft, keine Kinder, die man hört, wie sie den Ball aufs Tor pöhlen, erst recht keine Schlachtrufe von überengagierten Eltern, die in ihrem Nachwuchs den nächsten Musiala sehen.
„Das mit der Fusion war ein Fehler. Am besten, die Fürstenberger sind wieder selbst für ihr Stadion verantwortlich“
Rudolf Danschke, ehemaliger Präsident des 1. FC Fürstenberg
Dass hier nichts los ist, hat einen einfachen Grund: Im Fürstenberger Stadion wird nicht mehr gespielt. Auf Vereinsebene hat sich wiederholt, was bereits 1961 geschehen ist. Der 1. FC Fürstenberg und „die da drüben“, der Eisenhüttenstädter FC Stahl, fusionierten mit der SG Aufbau Eisenhüttenstadt und wurden zum FC Eisenhüttenstadt. Nicht nur der Name des 1. FC Fürstenberg ging in den des FC Eisenhüttenstadt auf, auch der Ort, an dem die Gründungsversammlung am 1. Juni 2015 stattfand – das Fürstenberger Stadion –, spielt so gut wie keine Rolle mehr.
„Dass das mit der Fusion nicht gut geht, hätte ich dir gleich sagen können“, weiß Frank und erklärt auch gleich, warum: „Wenn du drei Sozialhilfeempfänger zusammenbringst, wird daraus kein Millionär.“ Acht Jahre nach dem Zusammenschluss ist die Fusion in seinen Augen gescheitert, eine Meinung, die er nicht exklusiv hat und die sich ziemlich einfach belegen lässt: Nach oben ging in der Brandenburg-Liga auch nach der Fusion überhaupt nichts, dafür stieg der FC Eisenhüttenstadt 2022 in die Siebtklassigkeit ab und dümpelt seitdem in der Landesliga herum. Die großen Zeiten in der höchsten Spielklasse der DDR, mit Europapokalnächten gegen Istanbul und Duellen gegen Werder Bremen im DFB-Supercup, sind so weit entfernt wie die Stechmücke vom Artenschutz.
Tausende Wohnungen wurden abgerissen
Dass man das Stadion Fürstenberg mit seinen drei Großfeldern, einem Kleinfeld, zwei Übungsplätzen und einem Volleyballfeld nicht nutzt, liegt unter anderem daran, dass der (ungeliebte) Fusionspartner aus Eisenhüttenstadt mit der Sportanlage Waldstraße über nicht minder bundesligataugliche Trainingsbedingungen verfügt, wenn man die Masse an Trainingsplätzen betrachtet. In jeder anderen Stadt hätte man als Konsequenz auf den ausbleibenden sportlichen Erfolg auf der Fläche längst Wohnungen gebaut, in Eisenhüttenstadt erübrigt sich das: Hier lebten 1989 noch knapp 53 000 Menschen, heute sind es nur noch knapp 25 000. In der Folge wurden zwischen 2003 und 2015 über 6 000(!) Wohnungen abgerissen – und man ist noch nicht am Ende angekommen.
Neben den Trainingsmöglichkeiten in Eisenhüttenstadt ist es eben jener Bevölkerungsschwund, der die Zukunft des Fürstenberger Stadions gefährdet. „Die Sportstätten in Eisenhüttenstadt sollen der sinkenden Einwohnerzahl angepasst werden“, schrieb die Märkische Oderzeitung im Juni 2024, „die […] angestrebten Änderungen haben in erster Linie einen finanziellen Hintergrund“. Der Pachtvertrag mit der Stadt läuft 2029 aus, nach den aktuellen Planungen soll das Stadion 2030 geschlossen werden. Ein Antrag der CDU, das Stadion inklusive des Arboretums unter Denkmalschutz zu stellen und es auf diese Weise zu retten, wurde abgelehnt.
Einst die größte Sportstätte zwischen Berlin und Breslau
Dass diese Option überhaupt bestand, liegt an der historischen Bedeutung des Platzes, der einst die größte Sportstätte zwischen Berlin und Breslau war. Im August 1926 weihte der 1. FC Fürstenberg mit einem 6:0-Sieg über Neuzelle das „Stadion in der Oberaue“ ein, das drei Jahre zuvor am Schreibtisch des Berliner Gartenarchitekten Alfred Röttger entstanden war. Bis dahin spielte der 1912 gegründete 1. FC Fürstenberg auf dem Sportplatz an der Unterschleuse, ehe die SPD im Jahr 1922 die Idee hatte, ein Stadion für die kriegsgeschädigte Jugend zu errichten; nicht irgendeins, sondern „eine damals deutschlandweit wohl einmalige Sportstätte für solch eine relativ kleine Stadt“, wie die Märkische Oderzeitung berichtet.
Eine bedeutende Rolle im DDR-Fußball nahmen der 1. FC Fürstenberg und seine Spielstätte, die zeitweise den Namen „Walter-Ulbricht-Stadion“ trug, dagegen nie ein. Wer mindestens zweitklassigen Fußball sehen wollte, musste entweder an die Waldstraße nach Eisenhüttenstadt, nach Frankfurt/Oder oder nach dem Fall der Mauer ins 60 Kilometer entfernte Cottbus. Epische Pokalschlachten, ein griechischer Tempel wie in Demmin, all das fehlt in Fürstenberg. Auch so ein Charmebolzen wie das Tiefenorter Kaffeetälchen ist das Stadion nicht.
Identitätsdiebstahl
Als ich am nächsten Morgen nochmal allein durch das Stadion gehe, um Fotos zu machen, kommen mir wieder die Bilder in den Sinn, die mir Frank und Erich zeigten. Eine große Parade war da zu sehen, Menschenmassen, die hier stolz einmarschierten. Das war vor fast einhundert Jahren. Dann stelle ich mir die Frage, warum Frank und Erich so für den Erhalt des Stadions kämpfen. Weil sie, wie Frank, hier das Fußballspielen lernten? Weil sie gesehen haben, wie das Stadiongebäude 1989 bei einem Großbrand zerstört wurde? Oder wie das Jahrhunderthochwasser 1997 viele Spielflächen unbespielbar machte und teilweise sogar „vernichtete“, wie es in der Chronik des 1. FC Fürstenberg heißt, und der gemeinsame Wiederaufbau ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugte?
Als ich die Frage an Frank richte, sagt er mir nüchtern, dass es ihm und den Erhalt des Arboretums, der 1928 angelegten Jahn-Eiche und des historischen Stadions ginge. Und auch wenn das zu stimmen scheint, glaube ich, dass das nicht alles ist. Nach 1961 und 2015 darf man den Fürstenbergern nicht einen weiteren Teil ihrer Identität nehmen. Wenn ich seit meiner Reise an die polnische Grenze eine Sache weiß, dann die, dass das Stadion bleiben muss.
Anschrift: Stadion Fürstenberg, 15890 Eisenhüttenstadt-Fürstenberg
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