Rüssl Tonstudio, Hamburg

Es waren halt einfach noch andere Zeiten. Als die ersten Beats erklingen, ist das für Kevin Keegan das Startsignal. Er eilt durch die Sitzreihen zu einem freien Platz, dort wartet eine mit Karohemd und beiger Hose gekleidete Dame auf ihn. Alles deutet auf einen Besuch im Lehrerzimmer hin, aber Keegan ist nicht unter Pädagogen, er ist im aktuellen Sportstudio. Und Keegan fackelt nicht lange. Er legt seinen Arm um die Lady und die skeptischen Blicke des Mannes zu Keegans Linker verraten: „So war das aber nicht abgesprochen!“ Anfangs lächelt der Mann noch professionell in die Kameras, aber als er entdeckt, dass Keegan die Hand seiner sonnenbebrillten Frau hält, klärt er in seinem Kopf schon ab, wer den Hund bekommt und wer die Kinder. Wie lange hatte er gebraucht, um das Herz dieser Frau zu erobern! Und jetzt kommt dieser Profifußballer in seinem hautengen Hemd und sorgt mit seinen subtilen Flirtversuchen dafür, dass sich das Gesicht des Mannes in eine Diagonale verwandelt. „Darling, there is no danger“, haucht Kevin Keegan seiner Mätresse ins Ohr. Und während sie sich fühlt wie das Wisent in der Ranzzeit, erkennt der Mann plötzlich seine Chance. Dem Unbekannten zu seiner Linken flüstert er zu: „Sie nimmt die Kinder.“ Der Unbekannte lacht. Jetzt kann der Mann auch wieder lachen.

Keegan lotet unterdessen die Grenzen in dieser Poussage aus. Er reißt der Pädagogin die Brille vom Kopf und imitiert einen Sehuntüchtigen. Der Mann lacht und reibt sich die Knie: „Das ist meine freie Bahn für den Partykeller“, denkt er sich, während Keegan und die Lehrerin vergessen haben, dass sie im Fernsehen sind. Keegan setzt sich auf ihren Schoss, sie trommelt beschwingt auf den knackigen Schenkeln des Fußballers zum Takt der Musik. Das ganze Publikum klatscht, feiert sich und die Protagonisten. Wenig später kommt es zum Geständnis: „Head over heels in love“, weiß das Playback, und während Keegan seinen Zeigefinger ins Brustbein seiner neuen Flamme bohrt, singt er: „In you!“

Ein Mann und eine Frau, die sich lieben stellen fest, dass die Liebe noch intensiver sein könnte.

Dieter Kürten setzt die Botschaft des Songs in den Kontext

Jetzt klatscht auch der Mann mit. Ein Liebesgeständnis im ZDF, ein Fußballprofi, der vor einem Millionenpublikum seine Frau galoppiert wie ein Rittmeister einen Trakehner, das fällt unter konkludentes Handeln. Und als Sportstudio-Moderator Dieter Kürten dem Treiben ein Ende setzt und nüchtern bilanziert: „Wunderschön“, sitzen alle glücklich vereint nebeneinander. Kürten hat dabei die Ärmel seines Sakkos hochgeschoppt. Es waren halt einfach noch andere Zeiten.

Der Keegan-Transfer war der teuerste in der Geschichte der Bundesliga

Genau genommen der 9. Juni 1979. Kevin Keegan war zur Saison 1977/78 zum HSV gekommen, wenige Wochen vor seinem Wechsel gewann er mit dem FC Liverpool den Europapokal der Landesmeister. „Kevin Keegan kann alles“, titelte der Kicker damals nach dem Endspiel, „ihn kann man hoch anspielen, flach, in den Rücken oder in den Lauf, er weiß immer an den Ball zu kommen und den dann zu behaupten“. Das Fachblatt sprach folgerichtig vom „spektakulärste[n] und teuerste[n] Transfer in der Geschichte der Bundesliga“, als es wenige Tage später von der Keegan-Verpflichtung berichtete. Über zwei Millionen DM legte Manager Dr. Peter Krohn für den damals 26-Jährigen auf den Tisch, auch in England eine Rekordsumme.

Mit Keegan wird der HSV einer der führenden Fußballklubs in Europa werden.

John Smith

Die Prognose von Liverpools Präsidenten John Smith sollte sich anfangs noch nicht bewahrheiten. „Es hat ein Jahr gedauert, bis die Mannschaft und Kevin zusammengefunden haben“, sagte Felix Magath dem NDR. In Keegans erster Spielzeit hatte der Superstar Startschwierigkeiten, entwickelte sich aber im Laufe der Saison zur prägenden Figur des HSV-Spiels. Nach einer Tätlichkeit in einem Freundschaftsspiel wurde Keegan für acht Wochen gesperrt, der Hamburger Sportverein verpasste daraufhin die Qualifikation für den UEFA-Cup. Wettbewerbsübergreifend schoss der Engländer in seiner Premierensaison 14 Tore in 36 Spielen, der FC Barcelona zeigte Interesse an Keegan und bot über 7 Millionen DM, aber Hamburgs neuer Manager Günter Netzer verhinderte den Transfer.

Eine Maßnahme, die sich auszahlen sollte. Im zweiten Jahr schoss Keegan 17 Tore und feierte mit dem HSV die Deutsche Meisterschaft, der noch zwei weitere (1982 und 1983) sowie der Gewinn des Europapokals (1983) folgen sollten. Diese Erfolge erlebte Kevin Keegan schon nicht mehr mit. Vor der Weltmeisterschaft 1982 in Spanien wollte Keegan näher bei der Nationalmannschaft sein und schloss sich im Sommer 1980 dem FC Southampton an.

Kevin Keegan wird in Hamburg übrigens viermal soviel wie der britische Premierminister verdienen.

Kicker

„So populär wie der knapp 1,70 Meter große Engländer ist seit Club-Idol Uwe Seeler kein HSV-Spieler mehr gewesen“, urteilte der NDR im Februar 2021. Nicht minder beliebt war Keegans im Mai 1979 veröffentlichte Single: Sie wurde ein Top-Ten-Hit und hielt sich 15 Wochen in den Charts, „das richtige Lied zur richtigen Zeit“, wie Chris Norman gegenüber der Welt wusste. Pascal Claude von der Seite 45football.com hat eine tiefergehende Erklärung: „Das Herausragende an der Single ist in meinen Augen, dass es Pete Spencer und Chris Norman geschafft haben, sämtliche musikalische Unzulänglichkeiten, die mit singenden Fussballern jeweils einhergehen, wegzuproduzieren. So läuft das Lied heute noch ab und zu auf dem ersten Kanal des Schweizer Radios SRF, und niemand ahnt, wer hier singt, weil es einfach wie ein geschniegelter, seichter Allerweltssong aus den Siebzigerjahren klingt.“

Kevin Keegan hatte Chris Norman bei einem Smokie-Konzert in Hamburg kennengelernt, „Head over heels in love“ – „eingängige Melodie, leicht zu erinnern, ein paar Streicher, Keyboard“ (Welt) – war eigentlich für Chris Norman und Suzi Quatro vorgesehen. Als die keine Lust auf den Song hatte, sprang Keegan ein. Und auch wenn es nicht unüblich war, dass sich Fußballer im Tonstudio etwas dazuverdienten: Keegan lebte in dieser Hinsicht in einer anderen Welt, wie Felix Magath dem NDR erklärte: „Wie er mit Fans und Medien umgegangen ist, da war er uns um Jahre voraus. Er war ständig unterwegs, hatte Werbe- und andere Termine, halt wie ein Geschäftsmann.“ Pascal Claude geht ins Detail: „Als die Single 1979 rauskam, wurde Keegan übrigens von der BRAVO als Popstar gepusht. Dem Heft lag ein Poster bei, Keegan in rotem Hemd lässig an einen Baum gelehnt.“

In Waalkes‘ Rüssl Tonstudio wurde auch die Schulweg-Hitparade von Rolf Zuckowski produziert

Eingesungen wurde die Platte in Otto Waalkes‘ „Rüssl-Tonstudio“, in dem auch Songs von Udo Lindenberg, Vicky Leandros oder die Schulweg-Hitparade von Rolf Zuckowski produziert wurden und das heute „Gaga-Studio“ heißt. Waalkes hatte unter dem Namen „Rüssl“ ein ganzes Imperium mit Musikverlag und Produktionsfirma aufgebaut.

Mir kommt kein anderer singender Fussballer in den Sinn, der so elegant in der Anonymität des Mainstream-Pop aufgegangen ist wie Keegan.

Pascal Claude

Als Chris Norman von der Welt gefragt wurde, ob sich das Keegan-Experiment auf die Gegenwart übertragen ließe, sagt er: „Heute verdienen die Fußballer so viel Geld, die brauchen das bisschen Extra-Taschengeld gar nicht mehr.“ Das benötigt man auch nicht, um die Platte heute zu kaufen: Beim gängigen Online-Auktionshaus bekommt man „Head over heels in love“ zu Schnapperpreisen.

Anschrift: Rüssl Tonstudio (heute Gaga-Studio), Lentföhrdener Weg 21, 22523 Hamburg

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