Barmbeker Anfield, Hamburg

Immerhin, der Himmel weint mit mir, als ich an der Steilshooper Straße in Hamburg stehe und auf diese riesigen Betonblöcke schaue. Viel Fantasie braucht man nicht, um sich vorzustellen, dass hier mal ein Stadion stand. Wie bei einem Tetris füllen die Häuser das Areal, das aufgrund seiner legendären Stimmung im Volksmund zum Liverpool des Nordens avancierte und nur „Barmbeker Anfield“ genannt wurde. „Andreas Brehme machte hier seine ersten fußballerischen Schritte. Die HSV-Idole ‚Charly‘ Dörfel und Willi Giesemann ihre letzten“, schrieb einst der NDR. Dann sagten 2 700 Menschen im Juli 2015 in Hamburg Tschüss, Uwe Seeler gab dem Platz die letzte Ehre und Lotto King Karl ein Abschiedskonzert.

„Am Anfang blutete mir noch das Herz, als unser Stadion nicht mehr da war“, erzählt Karl-Heinz Martini. Wenn man ihn im Internet sucht, findet man unter seinem Namen ein Waffensachkundebuch. „Aber damit hab ich nix zu tun“, sagt Martini. Fans des HSV Barmbek-Uhlenhorst wissen das auch so, sie müssen ihn nicht bei Google eingeben, denn: „Ich hab schon einen kleinen Namen in Hamburg!“

Auf die Barmbeker Anfield kamen nicht selten 3000 bis 4000 Zuschauerinnen und Zuschauer

Karl-Heinz Martini wohnt fünf Minuten von der Steilshooper Straße entfernt, er spielte sein Leben lang für den Verein im Nordosten Hamburgs. „Einmal BU, immer BU“, erzählt Martini, „außer zwei, drei Jahre, da war ich beim TuS Hamburg, naja, der Schotter“. Dann lacht er und sagt: „Trotzdem. Einmal BU, immer BU“. Er wird das bei unserem Telefonat nicht zum letzten Mal raushauen, mit dem Brustton der Überzeugung und im Hamburger Schnack.

Karl-Heinz Martini hat die großen Zeiten des Vereins miterlebt. In den Siebzigerjahren machte BU dem FC St. Pauli Druck und wollte die Kiezkicker als zweite Kraft im Hamburger Fußball ablösen. „Selfmade-Millionär Herrmann Sanne investierte viele Jahre mehrere hunderttausend harte Mark in die Beine von Spielern“, erklärt die Seite Blog trifft Ball. Die eingangs erwähnten „Charly“ Dörfel und Willi Giesemann, beides Ex-Nationalspieler und zuvor beim Hamburger SV, sind wohl die bekanntesten Granden, die Sanne nach Barmbek lotsen konnte. In der Saison 1974/75 leistete sich der Verein als Gründungsmitglied der 2. Bundesliga Nord sogar ein Jahr lang Profitum. Hätte man das Geld in die Neuerrichtung eines Zauns gesteckt, hätte der Wilhelm-Rupprecht-Sportplatz Bundesliga-Fußball gesehen. So mussten die Zweitligapartien auf dem Sportplatz Rothenbaum stattfinden.

Weil Schiedsrichter Schäfer einen Elfmeter gegen den TSV Uetersen pfiff, wurde er nach Spielende von einigen Fans aus Uetersen angegriffen, ein besonders schlimmer Fanatiker hatte aus einem Stück Tau eine Art Lasso angefertigt und versuchte damit, Schiedsrichter Schäfer zu fangen.

Aus der Vereinschronik

Natürlich kann man heute nicht behaupten, dass es auf der Anfield zum Klassenerhalt gereicht hätte. Aber der Zuschaueransturm blieb auf dem Rothenbaum aus. Kamen zu Beginn der Siebziger noch drei- bis viertausend Menschen zu den Heimspielen auf die Anfield, sahen am Ende gerade mal rund 300 Besucherinnen und Besucher beim Abstieg aus der 2. Bundesliga Nord zu. Das Abenteuer leitete nicht nur den sportlichen Niedergang ein (der erst in den Achtzigerjahren in der sechsten Liga endete), es „brachte den Verein mit 600 000 DM Schulden an den Rand des Ruins“, wie die Vereinschronik berichtet. Ein Relikt der wohl einmaligen Rettungsaktion des heutigen Landesligisten findet man auf Ebay: Auf der Platte „Stars singen für BU“ tummeln sich Schlagergrößen wie Heino, Roberto Blanko oder Costa Cordalis.

„Am Anfang blutete mir noch das Herz, als unser Stadion nicht mehr da war“, sagte Karl-Heinz Martini. Doch der Satz ging noch weiter: „Aber unser neues Stadion, die Tribüne, das Restaurant – fantastisch!“ Schon zu den goldenen Zeiten hatte die Anfield einen entscheidenden Nachteil, denn sie brachte ein unfreiwilliges Nomadentum mit sich. Nicht nur beim Ausflug in die 2. Bundesliga war der HSVBU auswärts zuhause, bereits in den Sechzigerjahren feierte man die großen Erfolge auf fremdem Terrain: Da der am 30. August 1925 eröffnete Rupprecht-Sportplatz einen Ascheplatz (oder norddeutsch: Grandplatz) hatte, musste BU erst auf die Jahnkampfbahn nach Winterhude und später nach Alsterdorf auf den Sperber-Platz ausweichen. Erst am 22. August 1967 wurde der Rasenplatz mit einem Spiel gegen den Hamburger SV eingeweiht, „7000 Zuschauer sahen, wie Andreas Brehme als sechsjähriger Junge Uwe Seeler den Vereinswimpel überreichte“, heißt es auf der BU-Vereinsseite. Dass das Ende der Anfield in den Jahren 2015/2016 mit einer Übergangszeit am Borgweg (dem Platz des VfL 93 Hamburg) endete, ehe die Dieselstraße als „Anfield 2.0“ die neue Heimat wurde, passt in die Vereinsgeschichte des HSVBU.

Tatort Barmbeker Anfield

Auch Karl-Heinz Martini blickt nicht nur romantisierend auf den Wilhelm-Rupprecht-Sportplatz zurück: „Zur Wahrheit gehört auch: Wenn man auf der Anfield eine Schraube in die Werbung reindrehte, kam sie auf der anderen Seite wieder aus“. Am Ende war der nach dem Gründungsvorsitzenden benannte Wilhelm-Rupprecht-Sportplatz zwar „Kult“, wie Martini berichtet, aber eben in die Jahre gekommen. Davon war auch das einst so moderne Vereinsheim nicht ausgenommen, das 1973 Kulisse der Tatort-Folge „Platzverweis für Trimmel“ war und auf das in der zweiten Spielhälfte immer gestürmt wurde. „Am gelben Clubhaus neben dem Platz bröckelt der Putz ab“, berichtete der NDR im Herbst 2015, wenig später hatten es die Bagger plattgemacht.

Danach nahm die Barmbeker Anfield einen Platz in einem Kondolenzbuch ein, in dem schon die einstige HSV-Heimat Rothenbaum, das Stadion Marienthal oder der Wilschenbruch in Lüneburg Seiten füllen. Und wenn Karl-Heinz Martini die des Wilhelm-Rupprecht-Platzes aufschlägt, wird er sagen, was er auch am Ende unseres Telefonats sagte: „Die Stimmung auf der Anfield war einfach traumhaft!“

Anschrift: Wilhelm-Rupprecht-Sportplatz (Barmbeker Anfield), Steilshooper Straße 210, 22307 Hamburg

Internet: https://hsv-bu.de/sportanlagen/

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